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78. Locarno Film Festival: Entschleunigt durchs ländliche Georgien

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • 14. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Aug.

Alexander Koberidze legt mit "Dry Leaf" eine Gegenposition zum tempo- und handlungsreichen Mainstream-Kino vor
Alexander Koberidze legt mit "Dry Leaf" eine Gegenposition zum tempo- und handlungsreichen Mainstream-Kino vor

Der Georgier Alexander Koberidze schickt im Wettbewerb des 78. Locarno Film Festival in "Dry Leaf" einen Vater auf die Suche nach seiner verschwundenen Tochter. Klingt nach einem klassischen Roadmovie, verweigert sich aber im Grunde konsequent dessen Strategien.


Mit "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel sehen" (2021) gelang Alexander Koberidze ein großartig verspielter und von magischen Momenten durchzogener zweiter Spielfilm. Ungleich einfacher und geradliniger ist nun sein dritter Spielfilm angelegt. Wieder gibt es zwar einen Off-Erzähler, der fallweise die Ereignisse rafft oder Erklärungen liefert, und wieder spielt Fußball eine Rolle, im Kern wird aber sehr geradlinig von einer Reise erzählt.


Die Fotojournalistin Lisa hat von ihrer Recherchereise über Fußballfelder in abgelegenen Orten Georgiens einen Brief geschrieben, dass sie sich in nächster Zeit nicht mehr melden werde und nicht so schnell zurückkehren werde. Die Eltern sind beunruhigt, doch die Polizei erklärt sich für nicht zuständig, da die 28-Jährige ja von sich aus den Kontakt abbrechen will.


So bricht der Vater, der mit David Koberidze vom Vater des Regisseurs gespielt wird, mit dem unsichtbar bleibenden Freund Lisas zu einer Suche auf, bei der sie die Fußballfelder abklappern, die auch Lisa besucht haben könnte.


Erhält man in klassischen Roadmovies freilich bei jeder Begegnung neue Informationen über die/den Gesuchte:n und kommt ihr / ihm langsam näher, so verweigert sich Koberidze jeder Entwicklung. Mit Ausnahme beim Besuch eines Onkels erhält man auch keine Informationen über die Personen, denen der Vater begegnet. Vielmehr beschränken sich die Dialoge weitgehend auf die Frage, ob die Menschen die Frau auf dem Foto kennen, wo denn nun das nächste Fußballfeld liege und wie man dahinkomme.


Wie die junge Frau verschwunden ist, scheinen aber auch die Fußballfelder langsam zu verschwinden und auch die mehrfach eingeblendeten herbstlichen Blätter künden von Verfall und Verschwinden. Koberidze thematisiert das aber nicht groß, sondern inszeniert unaufgeregt. Radikal entleert ist der mit 186 Minuten nicht gerade kurze Film, in dessen Mitte auf das unmotivierte Insert "Ende des ersten Teils" das Insert "Zweiter Teil" folgt, und scheint sich damit bewusst in Opposition zum Handlungsreichtum klassischer Spielfilme zu stellen.


Langsame Schwenks über die Felder, in denen immer wieder Kühe, Pferde oder auch Hunde – und natürlich Fußballtore – ins Bild gerückt werden, dominieren den Film. In Verbindung mit der Musik, für die Alexander Koberidzes Bruder Giorgi verantwortlich zeichnet, entwickelt "Dry Leaf" dadurch einen langsam-meditativen Rhythmus. Manchmal wird dabei auch der Ton natürlicher Geräusche oder von Dialogen zurückgenommen und Szenen laufen wie in einem Stummfilm ab.


Aber auch dem Schaugenuss, den so ein Roadmovie durch ein ländliches Georgien bieten könnte, verweigert sich "Dry Leaf" konsequent. Denn enttäuscht wird man in der Erwartung, dass das enge 4:3-Bild und die gezielt unscharfen und schlecht belichteten Bilder des mit einem Sony Ericsson W595-Handy gedrehten Films bald durch Breitwand und prächtige Landschaftsaufnahmen abgelöst werden.


Vielmehr scheint Koberidze sich auch mit dieser visuellen Gestaltung in bewusste Opposition zu den hyperscharfen Bilder heutiger Produktionen zu stellen. Statt jeden Grashalm unterscheiden zu können sind hier Wiesen so vielfach bloße grüne Flecken und Konturen sind nicht scharf abgegrenzt, sondern verschwimmen.


Magische Momente fehlen dennoch nicht, wenn ein Dorf hinter einem See langsam auf dem Nebel auftaucht und dann wieder im Nebel verschwindet, aber vor allem wirft dieses Roadmovie mit seiner Entschleunigung und Entleerung die Zuschauer:innen auf sich selbst zurück. Denn statt mit einer dramatischen Geschichte zu packen oder Augenfutter zu bieten, scheint dieser Film vielmehr als Gefäß zu dienen, das den Zuschauer:innen Raum zur Meditation bieten soll: Die Reise des Vaters und seines unsichtbaren Begleiters soll ihnen nicht Ablenkung bieten, sondern die Möglichkeit zu einer Reise zu sich selbst.


Durchaus Leopardenchancen könnte "Dry Leaf" haben, denn speziell Jury-Mitglied Carlos Reygadas, an dessen Debüt "Japon" Koberidzes Film in seiner Entschleunigung erinnert, könnte daran großen Gefallen finden.



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