78. Locarno Film Festival: Naomi Kawases meisterhafter "Herzfilm" "Yakushima´s Illusion"
- Walter Gasperi

- 15. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Aug.

Naomi Kawase verbindet in "Yakushima´s Illusion" eine Liebesgeschichte mit einer Auseinandersetzung mit der in Japan tabuisierten Organtransplantation: Großes gefühlvolles Kino, das im Wettbewerb des 78. Locarno Film Festival in einer eigenen Liga spielt.
Skeptisch musste man sein, als Naomi Kawases neuer Spielfilm erst etwa zwei Wochen nach der Bekanntgabe des Programms von Locarno und eine Woche nach der Bekanntgabe des Programms von Venedig nachnominiert wurde: Hat das Festival am Lago einen Film übernommen, der am Lido abgelehnt wurde?
Wenn Letzteres zutrifft, stellt sich die Frage, auf welchem Niveau sich das demnächst beginnende italienische Filmfestival bewegen wird, denn "Yakushima´s Illusion" sorgte zweifellos für einen Höhepunkt im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden. Dominieren nämlich diese Sektion teils sperrige Filme, teils kleine Arthouse-Filme, so bietet Kawases neuer Film großes Kino.
Die Japanerin erfindet sich zwar nicht neu, denn wieder spielt sie mit großen Naturbildern und der Sehnsucht nach Einheit des Menschen mit dieser Natur und mit sich und vertraut ist auch ihre sanfte Erzählweise. Nah am Kitsch bewegte sich Kawase damit schon mehrfach wie beispielsweise in "Kirschblüten und rote Bohnen" (2015) oder "Radiance" (2017), doch in "Yakushima´s Illusion" umschifft sie diese Gefahr souverän.
Im Mittelpunkt steht die von Vicky Krieps gespielte französische Koordinatorin für Herztransplantationen Corry, die im Zuge eines Austauschs eine Stelle in Japan annimmt. Dort arbeitet sie in einer Klinik in der Abteilung für herzkranke Kinder, die teils jahrelang auf ein Spenderherz warten müssen, da Organspenden in Japan tabu sind.
Unübersehbar ist in Szenen, in denen die geringe Zahl an Organspenden in Japan im Vergleich zu Europa und die bedrückende Situation der kranken Kinder thematisiert wird, Kawases Anliegen zu einem Umdenken anzuregen, doch leichthändig und unprätentiös verbindet die 56-jährige Regisseurin dies mit der filmischen Erzählung.
Ausgehend vom Blick auf die Arbeit Corrys im Krankenhaus im Sommer 2025 blendet Kawase drei Jahre zurück und erzählt auch von einer Liebe der Herzspezialistin zu einem japanischen Fotografen, den sie bei der Wanderung in der großartigen Natur der titelgebenden Insel Yakushima kennenlernt, der schließlich aber aus ihrem Leben verschwindet und so wie 80.000 andere Menschen, die in Japan jedes Jahr über Nacht verschwinden, zu einem sogenannten "Johatsu" wird.
Souverän wird nicht nur die private Geschichte mit dem gesellschaftlichen Problem und "emotionale Herzprobleme" mit physischen verbunden, sondern Kawase erzählt auch prägnant von den Beziehungsproblemen aufgrund der kulturellen Differenz zwischen Corry und ihrem japanischen Freund.
Unnötig ist zwar, wie im Finale mit den Strategien des Spannungskino gespielt wird, wenn ein Spenderherz für ein krankes Kind gefunden wird, doch gerne sieht man über diese kleine Schwäche hinweg, denn wunderbar dicht ist dieser Film gewoben. "Yakushima´s Illusion" besticht mit seinem empathischen Blick auf die Menschen, mit seinem großen Erzählfluss und mit einem großartigen von Vicky Krieps angeführten Ensemble, in dem auch die Eltern, Kinder und Ärzte in den quasidokumentarisch echt und intensiv wirkenden Krankenhausszenen brillieren.
Durchaus einigen könnte sich die Jury auf diesen Film bei der Vergabe des Goldenen Leoparden und auch der Umstand, dass Naomi Kawase zwar schon 2000 in Locarno für "Hotaru" mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet wurde, aber trotz mehrmaliger Teilnahme am Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes noch nie den Hauptpreis eines der großen Filmfestivals gewonnen hat, könnte die längst verdiente Würdigung mit dem Goldenen Leoparden begünstigen.
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