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78. Locarno Film Festival: Halbzeit bei der Leopardenjagd

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • 11. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Aug.

"Mare´s Nest" von Ben Rivers und "Mektoub, My Love: Canto Due" im Wettbewerb des 78. Locarno Film Festival
"Mare´s Nest" von Ben Rivers und "Mektoub, My Love: Canto Due" im Wettbewerb des 78. Locarno Film Festival

Vielfältig präsentiert sich der Wettbewerb des 78. Locarno Film Festivals, doch nach acht von 18 Filmen hat sich noch kein Favorit für den Goldenen Leoparden herauskristallisiert: Den erwarteten Grenzgang zwischen Kunst und Kino bot Ben Rivers mit "Mare´s Nest", während Abdellatif Khechiche mit "Mektoub, My Love: Canto Due" eine 2017 begonnene Trilogie abschließt.


Wo Ben Rivers draufsteht, ist KUNST! drin. Nachdem der 53-jährige Brite im letzten Jahr im Wettbewerbsbeitrag "Bogancloch" auf einem alten Einsiedler fokussierte, der abgeschieden auf einem verfallenden Hof in den schottischen Highlands lebt, bestimmen nun ausschließlich Kinder "Mare´s Nest". Einen Gegenpol zum Vorgängerfilm kann man auch darin sehen, dass an die Stelle der Konzentration auf einen Ort eine Reise tritt und dass anstelle der wuchernden Vegetation der Highlands weitgehend eine menschenleere Felslandschaft und Öde den auf Menorca und in Spanien gedrehten Film bestimmt.


Im Mittelpunkt von "Mare´s Nest", zu dem sich Rivers von Don De Lillos Theaterstück "The Word of Snow" inspirieren ließ, steht die etwa zehnjährige Moon. Nach einer Autopanne ist sie in einer rund zehnminütigen ungeschnittenen Einstellungen zu Fuß auf einem Feldweg unterwegs und reflektiert über die Evolution der Welt von den ersten Lebewesen bis zur Entstehung des Menschen.


Von der Vergangenheit in die Zukunft führt der Film gewissermaßen, wenn Moon bei ihrem Weg durch eine postapokalyptische menschenleere Landschaft auf einen kindlichen Gelehrten und dessen Übersetzer, auf eine in Anarchie lebende und im Meer schwimmende Kindergemeinschaft und ein religiöses Ritual mit dem Minotaurus und dessen Labyrinth trifft, bis sie ein Auto als Geschenk erhält und in die Zukunft aufbricht.


Im Stil des epischen Theaters von Bert Brecht nehmen dabei mit Kreide auf eine Schultafel geschriebene Zwischentitel jeweils die Ereignisse der folgenden Begegnung vorweg. Rivers spielt dabei mit Farb- und Schwarzweißfilm und arbeitet auch mit Filmfehlern, wenn das Minotaurus-Ritual in einem Film-im-Film vorgeführt wird.


Durchaus Bildkraft entwickelt der auf 16-mm gedrehte Film dabei in einzelnen Höhlenszenen mit seinen von Brauntönen bestimmten Bildern und seiner menschenleeren Landschaft, aber Sog über 90 Minuten will sich dennoch nicht einstellen und entsprechend dem Song, den ein Junge gegen Ende Moon vorsingt, werden auch die Zuschauer:innen feststellen: "I have so many questions and get no answers".


Abdellatif Kechiche schließt dagegen mit "Mektoub, My Love: Canto Due" seine als Trilogie angelegte Verfilmung von François Bégaudeaus 2011 erschienenem Roman "La blessure, la vraie" ab, die er 2017 mit "Canto uno" begonnen und 2019 mit "Intermezzo" fortgesetzt hatte. Auch "Canto Due" wurde schon 2019 zusammen mit "Intermezzo" fertiggestellt, wurde dann aber nach heftigen Vorwürfen wegen sexistisch-übergriffigen Methoden Kechiches am Set sowie heftiger Kritik am voyeuristischen Blick seiner Filme sechs Jahre lang auf Eis gelegt.


Ohne Kenntnis der beiden Vorgängerfilme benötigt man in "Mektoub, My Love: Canto Due", der 1994 im südfranzösischen Sète spielt, gewisse Zeit, um sich einen Überblick über die Figuren und ihre Beziehungen zu verschaffen. Im Mittelpunkt steht Amin, der als Fotograf arbeitet, aber auch ein Drehbuch für einen Film geschrieben hat. Als er zufällig einem in Südfrankreich urlaubenden US-Produzenten und dessen als TV-Schauspielerin bekannten Frau begegnet, kann er dessen Interesse an seinem Drehbuch wecken.


Dazu kommen aber auch amouröse Verwicklungen, denn Amins Bekannte Ophelie ist von seinem Cousin Tony schwanger, obwohl ihre Hochzeit mit einem anderen Mann bevorsteht, und zudem sorgt eine Affäre Tonys mit der US-Schauspielerin für eine dramatische Szene. Auf ausführliche Sexszenen verzichtet Kechiche dabei aber weitgehend, frönt aber wiederum seiner Vorliebe mit voyeuristischem Blick auf nur leicht bekleideten jungen Menschen zu fokussieren.


Zweifellos beeindruckend ist, wie Kechiche in langen Dialogszenen aus den ungemein lebensecht und wie improvisiert agierenden Schauspieler:innen alles herausholt und mit einer dynamischen und nah geführten Kamera mitten ins Geschehen versetzt und hohe Authentizität erzeugt. Andererseits franst der Film aber auch aus, zerfällt in Einzelszenen, wenn er bald Ophélie ins Zentrum rückt, dann diese wieder aus den Augen verliert und auf dem US-Paar fokussiert.


Auch der karikierende Blick auf das US-Paar, das mit rotem Ferrari vorfährt und arrogant verlangt in einem Restaurant bedient zu werden, obwohl dieses geschlossen ist, ist zu platt, um wirklich Witz zu entwickeln. Gleiches gilt auch für eine – wohl bewusst - hoffnungslos überzogene, aber letztlich eben auch wenig witzige Eifersuchtsszene. So zeigt sich in einzelnen Szenen zwar immer wieder Kechiches Können, aber zu einem überzeugenden Ganzen will sich "Mektoub, My Love: Canto Due" nicht fügen.



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