Viennale 2025: Alte Meister und junge Talente
- Walter Gasperi

- 27. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

Nahezu vergessene filmhistorische Werke kann man bei der Viennale ebenso entdecken wie mit "Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes" den vermutlich letzten Film des 92-jährigen Edgar Reitz. Aber auch noch unbekannten Regisseur:innen wird beim größten österreichischen Filmfestival eine Plattform geboten.
Die in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum organisierte Retrospektive der Viennale widmet sich heuer dem Franzosen Jean Epstein. Bekannt ist dieser vor allem für seine avantgardistischen Filme wie die Edgar Allan-Poe-Verfilmung "La chute de la maison Usher" (1928) und seine halbdokumentarischen Filme über die Welt der bretonischen Fischer. Bei der Viennale konnte man aber auch den sehr unterhaltsamen Liebes- und Abenteuerfilm "Le lion des Mogols" (1924) entdecken.
Die Handlung um einen mongolischen Fürsten, der auf der Flucht vor dem brutalen Herrscher in eine französische Filmproduktion gerät und sich in die Hauptdarstellerin verliebt, mag zwar klischeehaft sein, doch rasante Montagesequenzen, mit denen eine Taxifahrt oder auch der Besuch in einem Nachtclub dynamisiert wird, bleiben dennoch haften.
Wenig zu bieten hat dagegen die von Epstein selbst ungeliebte Komödie "Marius et Olive à Paris" (1935), in der zwei Freunde von Marseille nach Paris aufbrechen und dort zwei Frauen heiraten, macht aber doch im Vergleich mit dem Melodram "Coeur de gueux" (1935) wiederkehrende Themen im Werk des 1953 verstorbenen Franzosen sichtbar. In beiden Filmen geht es nämlich nicht nur um zwei Freunde, sondern wie in "Marius et Olive à Paris" Marseille Paris gegenübergestellt wird, so steht in "Coeur de gueux" das gehobene Pariser Bürgertum in Opposition zur einfachen Welt von Schausteller:innen.
Mit dem 92-jährigen Edgar Reitz präsentierte aber auch ein Mitbegründer des Neuen Deutschen Films der 1960er Jahre seinen neuen – und wohl letzten – Film. Altersbedingt hat Reitz für sein schon lange geplantes Werk über den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) aber wohl Anatol Schuster als Co-Regisseur hinzugezogen. Auch die Anlage von "Leibniz – Chronik eines verschollenen Bilds" als Kammerspiel dürfte nicht nur einem begrenzten Budget, sondern auch dem Alter des Regisseurs geschuldet sein.
Reitz / Schuster zeichnen nicht das Leben dieses Universalgenies nach, sondern fokussieren ganz auf die – fiktive – Entstehung eines Porträts von Leibniz, das sich die preußische Königin Charlotte wünscht, um mit ihrem geschätzten einstigen Lehrer wenigstens via Bild kommunizieren zu können.
Während der Hofmaler Delalandre, der sich mit einem halbfertigten Bild vorstellt, in dem nur noch das Gesicht des Philosophen ergänzt werden muss, aber bald aufgibt, da er mit seinen genauen Vorgaben zu Haltung und Mimik den Philosophen ebenso nervt, wie dieser ihn mit seinen philosophischen Fragen, entwickelt sich mit der danach auftretenden flämischen Malerin ein angeregtes philosophisches Gespräch.
Vom Dialog ist "Leibniz" zwar bestimmt, bietet aber nicht nur einen vielfältigen Einblick in Leibniz Ideen, seine Gedanken zu praktischen Erfindungen von Luftmatratze über Klappstuhl bis zu Rechenmaschine und seine Ablehnung von Obrigkeiten, sondern diskutiert auch die Frage, inwieweit ein Gemälde nicht nur das Äußere, sondern auch die Seele des Porträtierten abbilden kann.
Was trocken klingt, wird dank des blendend harmonierenden Ensembles um Edgar Selge und Aenne Schwarz, sowie den genau abgezirkelten Kamerabewegungen und einer Lichtführung, die sich ganz im Sinne der Malerin an Caravaggios Chiaroscuro und dem der flämischen Maler orientiert, zum von Humor durchzogenen, leichthändigen Vergnügen.
Frischen Wind ins US-Independent-Kino bringt der dominikanisch-us-amerikanische Filmemacher Joel Alfonso Vargas mit seinem Langfilmdebüt "Mad Bills to Pay (or Destiny, dile que no soy malo)". Die Geschichte um ein Teenagerpaar, das Eltern wird, ist zwar nicht neu, aber dicht und authentisch ins Milieu der dominikanischen Community der New Yorker Bronx eingebettet und mitreißend gespielt.
In minutenlangen distanzierten statischen Einstellungen lässt Vargas vor allem den werdenden Vater Ricardo immer wieder seine heftigen Konflikte mit seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester ausagieren. Unübersehbar an John Cassavetes orientiert sich der Newcomer in dieser Inszenierungsmethode, durch die die Gefühle der Protagonist:innen intensiv und unmittelbar nach außen gekehrt werden. Doch auch berührende leise Momente fehlen nicht, wenn Ricardo nach einer Auseinandersetzung sich wieder mit seiner Freundin auszusöhnen versucht.
Aber auch der fließende Wechsel zwischen Spanisch und Englisch trägt zur Dichte dieses kraftvollen Debüts bei, in dem die Frauen deutlich vernünftiger und besonnener agieren als der unreife Ricardo, der es zwar durchaus gut meint, sein Leben aber nicht auf die Reihe bringt, immer wieder seine Jobs verliert und mehrfach auch in den Suff abstürzt.
Kein Newcomer, aber international doch weitgehend unbekannt war der Japaner Sho Miyake bis zu seinem Sieg beim heurigen Filmfestival von Locarno mit seiner Mangaverfilmung "Two Seasons, Two Strangers". In feinfühliger Inszenierung erzählt Miyake in zwei Episoden von einer Begegnung von zwei Fremden, die sich langsam näherkommen und über Einsamkeit und Trauer diskutieren.
Während freilich die erste Geschichte, bei der ein junger Mann und eine junge Frau an einer sommerlichen Meeresküste spazieren und schließlich bei strömendem Regen schwimmen gehen, die Fiktion einer Drehbuchautorin ist, deren Film schließlich mit Studenten diskutiert wird, reist in der zweiten Geschichte die Autorin selbst ins winterliche Bergland, wo sie bei einem alten Herbergsbesitzer Unterkunft findet.
In berückend schönen, poetischen Bildern und knappen Dialogen stellt Miyake in diesem Kleinod dabei nicht nur Meer und Bergland, Sommer und Winter, Jugend und Alter, Mann und Frau einander gegenüber, sondern diskutiert über die Drehbuchautorin auch Fragen der künstlerischen Inspiration und der Entstehung von Geschichten.
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