Impressionen statt Geschichten: Jean Epstein
- Walter Gasperi

- 12. Okt.
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Der in Warschau geborene Jean Epstein (1897 -1953) gehört nicht nur zu den großen Regisseuren der Stummfilmzeit, sondern war auch ein wegweisender Filmtheoretiker. Die Viennale widmet in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum Epstein seine heurige Retrospektive.
Geboren am 25. März 1897 als Sohn eines französisch-jüdischen Vaters und einer polnischen Mutter, wuchs Jean Epstein nach dem Tod des Vaters im Jahr 1908 in der Schweiz auf, ehe er ein Medizinstudium in Lyon begann. Über seine Arbeit als Sekretär und Übersetzer von Auguste Lumière kam er zum Kino.
Neben Kritiken für Louis Dellucs Zeitschrift "Cinéa" publizierte er so 1921 das Buch "Bonjour cinéma!", in welchem er in Gedichten und Texten zum Thema "Photogénie" über die Möglichkeit reflektierte, mit dem Film das Denken zu registrieren. Wichtiger als die Entwicklung einer Handlung war ihm auch in seiner filmpraktischen Arbeit, sich der visuellen Ausstrahlung von Dingen, Menschen, Landschaften, Situationen hinzugegen (Christen, Filmgeschichte 1, S. 139). Mit filmischen Mitteln wie Kameraperspektive, Großaufnahme, Doppelbelichtung und Zeitlupe, aber auch mit der Poesie unbelebter Dinge versuchte er so den inneren Zustand seiner Protagonist:innen zu veranschaulichen.
Auf sein Debüt "Vie de Pasteur" ("Das Leben Pasteurs", 1922) und eine Adaption von Balzacs "L´auberge rouge" ("Die rote Herberge", 1923) folgte mit "Coeur fidèle" ("Treues Herz", 1923) ein erstes Meisterwerk. Eingebettet in die poetische Schilderung des Marseiller Hafens und seiner Bars erzählt Epstein darin mit viel Feingefühl von einer jungen Frau, in die zwei Männer verliebt sind. In der Arbeit mit Unschärfen, Doppelbelichtungen, der subjektiven Kamera aber auch schnellen Montagen, mit denen immer wieder psychische Zustände vermittelt werden, gilt dieses Melodram als Musterbeispiel des impressionistischen Films.
Zum Meister der lyrischen Landschaftsschilderung wurde er nach dem Drama "La belle Nivernaise" (1924), das im Schiffermilieu einer Flusslandschaft spielt, vor allem mit drei Filmen über die Bretagne. An der Grenze zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm bewegt sich dabei "Finis Terrae" (1928), in dem Epstein ausschließlich mit Bewohner:innen der Region zusammenarbeitete. Die Geschichte von Tangfischern, die ihren verletzten Kollegen trotz schwerer See auf eine Insel zu einem Arzt bringen müssen, nützte er dabei, um in poetischen Bildern die wilde Natur zu schildern.
Mit "Mor´vran" (1931) und "L’Or des mers" (1932) folgten nicht nur in den nächsten Jahren zwei kurze Dokumentarfilme, die sich wiederum dem Alltag der Fischer der Bretagne und ihrem Kampf mit der Natur widmen, sondern auch 15 Jahre später kehrte Epstein in die Bretagne zurück, um im 23-minütigen Drama "Le tempestaire" (1947) von einer Frau zu erzählen, die um ihren Verlobten bangt, der während eines Sturms auf See ist.
Als aufregender Avantgardist des Kinos erwies er sich aber auch mit dem Kurzspielfilm "La Glace à trois faces" ("Der dreiflügelige Spiegel", 1927), in dem er das Bild eines jungen Mannes aus der Perspektive von drei Frauen, die ihn lieben, zeichnet. Die Art, wie Epstein die Zeitebenen dabei verschwimmen lässt, wurde auch als Inspirationsquelle für die Filme Alain Resnais, speziell für dessen "Letztes Jahr in Marienbad" angesehen.
Als Meisterwerk der Stimmungsmalerei gilt aber auch seine Edgar Allan Poe-Verfilmung "La chute de la maison Usher" ("Der Untergang des Hauses Usher", 1928), über die der Filmtheoretiker und Filmkritiker Bela Balázs schrieb: "Er zeigt uns nicht den Inhalt der Ballade Poes, sondern ihre beunruhigenden Eindrücke und jene Stimmungs- und Bildassoziationen, die sie im Leser erwecken. Hier sehen wir konturlose Hallen und ungewisse Treppen, endlose finstere Gänge, die von tragischen Schatten bevölkert sind. Türen gehen auf, Gardinen wehen, Hände strecken sich aus und Schleier schweben in nebelhaften Gewässern. Das sind keine verständlichen und keine darstellenden Illustrationen. Es sind Assoziationen der dunklen Eindrücke einer dunklen Ballade" (Reclams Filmführer, 5. Aufl., 1982, S. 124).
Während Epstein in den 1930er Jahren noch weitere Dokumentarfilme drehte, durfte er während der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen in keinem Studio drehen, konnte aber der Deportation, die ihm aufgrund seiner jüdischen Wurzeln drohte, entgehen.
Spieltermine und weitere Informationen zur Jean-Epstein-Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums und der Viennale finden Sie hier.
Trailer zur Jean-Epstein-Retrospektive



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