Filmbuch: Zerbrochene Träume – verlorene Lebensperspektiven: Vom Scheitern im Film
- Walter Gasperi

- vor 12 Minuten
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Erfolgsgeschichten liebt das Kino, aber auch vom Scheitern wird immer wieder erzählt: Der von Jörg Herrmann und Reinhold Zwick herausgegebene Sammelband bietet neben grundlegenden Essays detaillierte Analysen zum Scheitern als zentralem Thema in den Filmen unter anderem der Coen-Brüder und von Werner Herzog. Dazu kommen Einzelanalysen unter anderem von Agnès Vardas "Vogelfrei", Asif Kapadias "Amy" und Christopher Nolans "Oppenheimer".
Ausgehend vom Blick auf das allgegenwärtige globale Scheitern in den 2020er Jahren von der Klimaentwicklung über die Kriege in der Ukraine und in Gaza arbeiten die Herausgeber Jörg Herrmann und Reinhold Zwick in ihrer Einführung zu diesem Sammelband, der auf der Jahrestagung 2023 der Katholischen Akademie Schwerte basiert, den Gegensatz von Thematisierung öffentlichen Scheiterns und Verheimlichung des privaten Scheiterns heraus. Eindrücklich zeigen die Autoren auch den Unterschied zwischen Misserfolg und Scheitern auf und erklären – wie mehrfach im Buch – die Wortherkunft vom Holzscheit und dem völligen Zerbrechen eines Schiffes in seine Einzelteile.
Herrmann / Zwick zeigen aber auch auf, dass auch dem Katholizismus mit der Passionsgeschichte Christi das Scheitern einerseits eingeschrieben ist, andererseits aber auch von dessen Überwindung erzählt wird. Auch das Kino sei in Arthousefilmen, die vom Scheitern erzählen, näher am Leben und an dessen Gebrochenheit als das Mainstreamkino mit seinen Erfolgsgeschichten.
Auf diese Einleitung folgen vier grundlegende, wissenschaftliche und nicht immer leicht zu lesende Essays, in deren Zentrum immer wieder die Aufforderung steht, das Scheitern nicht zu verdrängen, sondern zu thematisieren und daraus zu lernen.
Flüssiger zu lesen wird der Sammelband im zweiten Abschnitt, in dem der Fokus auf Regisseur:innen und konkreten Themen liegt. Inge Kirsner blickt dabei am Beispiel von "Barton Fink" (1991), "A Serious Man" (2009) und "True Grit" (2010) auf die Loser der Coen-Brüder, die mit Zärtlichkeit auf ihre Verlierer blicken, deren Würde alles überstrahle, was in den Augen der Gesellschaft als Scheitern erscheine.
Martin Ostermann analysiert dagegen detailreich Stéphane Brizés "Trilogie der Arbeit" "La loi du marché" ("Der Wert des Menschen", 2015), "En guerre" ("Streik", 2018) und "Un autre monde" ("Another World", 2021), die am Beispiel eines – jeweils von Vincent Lindon gespielten - Arbeitssuchenden, eines Gewerkschafters und eines Angestellten des mittleren Managements vom Scheitern des Systems des Neoliberalismus erzählt, während der Protagonist jeweils in der Verweigerung gegenüber dem System seine Würde bewahrt.
Auch Hans J. Wulff blickt auf die heutige Arbeitswelt, wenn er untersucht, wie in den Spielfilmen "The Company Man" von John Wells ("The Company - Gewinn ist nicht alles", 2009), Laurent Cantets "Ressources Humaines" ("Der Jobkiller", 1999), "Deux jours, une nuit" von den Dardenne-Brüdern ("Zwei Tage, eine Nacht", 2014) und "Pride" von Matthew Warchus ("Pride", 2014) von Entlassung erzählt wird. Der Verdrängung, die in "The Company Man" schließlich zum Suizid führt, steht dabei der Rückgewinn der Selbstachtung in "Deux jours, une nuit" und eine überraschende Solidarisierung scheinbar gegensätzlicher Gruppen in "Pride" gegenüber.
Joachim Valentin fokussiert ausgehend von den frühen Filmen Woody Allens vor allem auf dessen spätem Meisterwerk "Blue Jasmine" (2013). Valentin zeigt dabei auf, wie bei Allen das Scheitern aus dem Widerspruch von Selbstbild und Realität resultiert und arbeitet an "Blue Jasmine" spannend den Gegensatz zwischen der scheinbar erfolgreichen, aber letztlich scheiternden Blondine Jasmine und ihrer nach außen hin unscheinbaren, aber das Leben meisternden Adoptivschwester Ginger heraus.
Noch mehr als bei Allen und bei den Coen Brüdern ist wohl in den Filmen von Werner Herzog das Scheitern das zentrale Thema. Reinhold Zwick blickt ausgehend vom Widerspruch zwischen der Berühmtheit Herzogs in den USA und dessen zunehmender Unbekanntheit in Deutschland auf dessen frühe Filme "Aguirre – Der Zorn Gottes" (1972), "Stroszek" (1977) und "Herz aus Glas" (1976).
In ebenso präziser wie spannender Beschreibung der Filme arbeitet Zwick dabei heraus wie dem Scheitern des titanenhaften Konquistadors Aguirre durch seine grenzenlose Hybris, in "Stroszek" das Scheitern eines "kleinen Mannes" an den ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnissen und in "Herz aus Glas" das Scheitern einer Gemeinschaft, in der man auch die Welt sehen kann, durch Verlust wesentlichen Wissens durch Unachtsamkeit gegenüberstehen.
Im dritten Abschnitt folgen schließlich eindrucksvolle Einzelanalysen von Filmen, die abgesehen vom Animé "Welcome to the NHK" (2006) alle große Bekanntheit genießen. Während Edgar Edel und Malte Frei aufzeigen, wie in dieser Animé-Serie auch über die Gestaltung der filmischen Räume von einem Rückzug von der Welt durch Leistungsdruck und Medienabhängigkeit erzählt wird, arbeitet Nathalie Fritz in detailreicher Analyse aufregend heraus, wieso Asif Kapadias "Amy" (2015) kein objektiver Dokumentarfilm ist, sondern die Perspektive des Regisseurs präsentiert, der sein Material auswählt und gestaltet, um einem bestimmtes Narrativ zu folgen.
Zu beeindrucken versteht aber auch Dirk von Jutrczenkas Beitrag zu Christopher Nolans "Oppenheimer" (2023). Der Autor deckt dabei mit Fokussierung auf die ineinander verwobenen Aufstiegs- und Fallgeschichten von Oppenheimer und Lewis Strauss den Zusammenhang von Scheitern und Schuld auf und zeigt auch Parallelen zur christlichen Passionsgeschichte auf.
Viera Pirker wiederum stellt Agnès Vardas "Sans toit ni loi" ("Vogelfrei", 1985), in dem ausgehend vom Fund der Leiche einer Vagabundin durch Interviews mit ihren letzten Kontakten ein Porträt der außerhalb der Gesellschaft lebenden Frau, aber auch der Gesellschaft gezeichnet wird, in Bezug zu den anderen Filmen und dem Stil der Französin, die immer wieder mit semidokumentarischen Mitteln arbeitete und der Milieurecherche große Bedeutung beimaß.
Traugott Roser blickt dagegen in seinem Beitrag zu Felix van Groeningens "The Broken Circle" (2013) zunächst auf "Krebsfilme", die stets letztlich einen Sinn in der Krankheit vermitteln, während "The Broken Circle" im Kontrast dazu vom totalen Scheitern erzählt. Hier stirbt nämlich nicht nur das Kind, sondern auch der Trauerprozess scheitert, die Beziehung der Eltern zerbricht und weder Sex noch Religion helfen über den Verlust hinweg. Einzig die Musik erscheint als kleiner Rettungsanker.
Eindrücklich analysiert schließlich auch Hans-Gerd Schwandt Paul Schraders komplexes und bildmächtiges Biopic "Mishima – A Life in Four Chapters" (1985). Der Autor bietet einen detailreichen Einblick in das Leben des japanischen Autors und Nationalisten Yukio Mishima, deckt dessen Widersprüche zwischen visionärem Schriftsteller und reaktionärem Putschisten auf und arbeitet heraus, wie Schrader eine kongeniale filmische Form für Mishimas Widersprüchlichkeit fand.
Abgerundet wird der Band durch ein Filmgespräch mit Andres Veiel zu "Der Kick", in dem der deutsche Dokumentarfilmer allein mit zwei Schauspieler:innen in einer leeren Halle einen brutalen Mord zweier rechtsradikaler Jugendlicher 2002 in Brandenburg aufarbeitete. Veiel bietet in diesem Gespräch Einblick in die umfangreiche Recherchearbeit und in die intensiven Gespräche, die im Zuge der Vorbereitung mit den Betroffenen geführt wurden, sowie in die Komplexität des Projekts, das zunächst als Theaterstück entstand, dann verfilmt wurde und schließlich auch noch zu einem Buch führte.
Nicht nur spannende Lektüre bietet dieser Sammelband, bei dem die Darstellung auch immer wieder durch die nicht allzu zahlreichen, aber treffenden Filmstills unterstützt wird, mit seinen 16 fundierten, 15- bis 30-seitigen Beiträgen, sondern lässt auch die einzelnen Filme sowie das Œuvre der vorgestellten Regisseur:innen unter einem neuen Blickwinkel und vertieft sehen. Gleichzeitig regt dieses Filmbuch in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema aber auch an, seine eigene Position zum Scheitern zu überdenken und dieses nicht zu tabuisieren, sondern offen damit umzugehen.
Hermann, Jörg / Zwick, Reinhold (Hg.), Zerbrochene Träume – verlorene Lebensperspektiven. Vom Scheitern im Film. RFM Religion, Film und Medien 13, Schüren Verlag, Marburg 2025, 348 S., € 34, ISBN 978-3-7410-0507-7 (e-Book: € 26,99)


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