top of page

78. Locarno Film Festival: Stille Sehnsucht

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • vor 5 Tagen
  • 3 Min. Lesezeit
Julian Radlmaiers "Sehnsucht in Sangerhausen" und Elsa Kremsers und Levin Peters "White Snail" im Wettbewerb des 78. Locarno Film Festivals
Julian Radlmaiers "Sehnsucht in Sangerhausen" und Elsa Kremsers und Levin Peters "White Snail" im Wettbewerb des 78. Locarno Film Festivals

Während Julian Radlmaier im Wettbewerb des Locarno Film Festival mit "Sehnsucht in Sangerhausen" eine leichthändige Gesellschaftssatire präsentierte, erzählen Elsa Kremser und Levin Peter in "White Snail" von der fragilen Beziehung zweier Außenseiter in der belarussischen Hauptstadt Minsk.


Die in Sachsen-Anhalt gelegene Kreisstadt Sangerhausen ist ein Hauptdarsteller in Julian Radlmaiers nach "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" (2017) und "Blutsauger" (2021) drittem Spielfilm. Immer wieder rückt der 41-jährige Regisseur in "Sehnsucht in Sangerhausen" nicht nur die mächtige pyramidenförmige Abraumhalde, die von der einstigen Blüte des Kupfer- und Silberbergbaus kündet, im Hintergrund ins Bild, sondern beschwört mit dem 1950er-Jahre Schlager "Die schönsten Rosen blühn in Sangerhausen" auch den Ruf der herausgeputzten Stadt als Rosenzentrum.


Den Kitsch, der dabei aufkommt, bricht Radlmaier aber mit seinen Protagonistinnen, die in prekären Verhältnissen leben. Spielt das erste der vier Kapitel, das mit "Lotte" überschrieben ist, noch im ausgehenden 18. Jahrhundert und erzählt vom Ausbruchsversuch einer Dienerin aus ihrer Abhängigkeit und vom Traum einer Flucht nach Frankreich, in der mit der Revolution die Idee der Freiheit scheinbar verwirklicht wurde, so rückt mit dem zweiten Kapitel "Ursula" eine Reinigungskraft ins Zentrum, die im Zweitjob auch noch als Bedienung in einem Café arbeitet.


Nicht nur durch den Schauplatz und über Details wie einen blauen Stein, den beide Protagonistinnen finden, oder Kirschen, die für die einfache Bevölkerung viel zu teuer sind, verbindet Radlmaier die beiden Geschichten, sondern er erzählt auch auf beiden Ebenen von großem sozialen Gefälle und  Abhängigkeiten.


Mit einem dritten Kapitel kommt auch noch eine aus dem Iran emigrierte junge You-Tuberin dazu, die hofft mit touristischen Videos Geld zu verdienen. So bringt Radlmaier weitere Sehenswürdigkeiten der Region wie das Kyffhäuser-Denkmal und die Barbarossahöhle ins Spiel, kontrastiert die Idylle aber gleichzeitig mit der grassierenden Ausländerfeindlichkeit. Diese bekommt die Iranerin ebenso wie ein Mongole, der Besichtigungstouren mit seinem Kleinbus anbietet, im Alltag zu spüren, wird andererseits aber auch durch Nachrichten mit Friedrich Merz´ Aussage, dass abgewiesene Asylwerber sich beim Zahnarzt ihre Zähne regulieren lassen, während deutsche Bürger keine Termine bekommen, gesteigert.


Trotz dieses ernsten Hintergrunds bleibt diese Satire nicht zuletzt dank der lichtdurchflutet-hellen Sommerbilder immer leicht und beschwört mit der wiederholten Bezugnahme auf den ebenfalls aus der Region stammenden romantischen Dichter Novalis die Sehnsucht von einer Befreiung aus einem unbefriedigenden Leben.


Dabei führt Radlmaier im abschließenden vierten Kapitel nicht nur die verschiedenen Protagonist:innen zusammen und beschwört deren Solidarität, sondern verleiht mit der Verknüpfung von spätem 18. Jahrhundert und Gegenwart "Sehnsucht in Sangerhausen" auch noch eine ebenso märchenhafte wie geisterhafte Ebene.


Im Gegensatz dazu verzichten Elsa Kremser und Levin Peter in ihrem in der belarussischen Hauptstadt Minsk spielenden Spielfilmdebüt "White Snail" weitgehend auf Sozialkritik und fokussieren ganz auf der sich langsam entwickelnden fragilen Beziehung zwischen einem jungen Model und einem Angestellten eines Leichenhauses.


Dass die beiden Hauptdarsteller:innen Marya Imbro und Mikhail Senkov in ihren ersten Filmrollen teilweise eigene Lebenserfahrungen verarbeiten, verleiht "White Snail" ebenso einen dokumentarischen Touch wie der ausführliche Blick auf die Ausbildung zum Model oder die Arbeit im Leichenhaus. Das liegt wohl nicht nur daran, dass das Regie-Duo vom Dokumentarfilm kommt, sondern auch, dass Tizza Covi und Rainer Frimmel, die für ihre dokumentarisch-fiktionalen Grenzgänge wie "Mister Universo" bekannt sind, als Dramaturgen und Drehbuchberater mitarbeiteten.


Nichts verbindet im Grunde die 20-jährige Masha, die von einer internationalen Model-Karriere träumt, und den rund doppelt so alten Misha, der seine Erfahrungen im Leichenhaus in morbiden Ölgemälden verarbeitet. Ein Todesfall im Krankenhaus, in dem Masha nach einem Selbstmordversuch liegt, weckt aber ihr Interesse an den Toten, sodass sie das Leichenhaus aufsucht, wo sie Misha kennenlernt.


Nah folgen Kremser / Peter und ihr Kameramann Mikhail Khursevich in ihrem in Minsk und im lettischen Daugavplis gedrehten Film Masha und später auch Misha. Ganz auf dieses Duo fokussieren sie, sparen das gesellschaftliche Umfeld weitgehend aus.


Nur wenige Szene wie ein Telefonat Mashas mit ihrem nach Polen emigrierten Vater vermitteln einen Eindruck von der Stimmung im diktatorisch regierten Belarus, im Zentrum steht die private Geschichte der langsamen und fragilen Annäherung der beiden verlorenen und einsamen Seelen.


Überzeugend spielen Kremser / Peter dabei mit dem Gegensatz zwischen dem Streben nach Schönheit und Perfektion in der Modelwelt und der Hinfälligkeit des Menschen, die die Leichenhalle bewusst macht, und auch formal besticht "White Snail" mit starkem Sounddesign, eindrücklicher Lichtregie und sorgfältig kadrierten Bildern. Dennoch bleibt der Eindruck nicht aus, dass die Handlung, die in der Begegnung zweier gegensätzlicher Figuren und der langsamen Erzählweise teilweise auch an Ildiko Enyedis Berlinale-Sieger "Körper und Seele" erinnert, für 115 Minuten insgesamt doch etwas dünn ist.

Kommentare


bottom of page