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Britisches Nachkriegskino - British Postwar Cinema: 1945 bis 1960

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • 3. Aug.
  • 4 Min. Lesezeit
Die Retrospektive des 78. Locarno Film Festival widmet sich dem britischen Nachkriegskino von 1945 bis 1960
Die Retrospektive des 78. Locarno Film Festival widmet sich dem britischen Nachkriegskino von 1945 bis 1960

Die Retrospektive des 78. Locarno Film Festival (6.8. - 16.8. 2025) widmet sich dem britischen Nachkriegskino. Der Fokus liegt dabei auf Filmen, die das Leben im Nachkriegsengland reflektieren, aber auch der bislang vielfach übersehenen Bedeutung der Frauen im britischen Filmschaffen und amerikanischer Emigrant:innen wird Rechnung gezollt.


Ausgesprochen negativ äußerte sich François Truffaut in den frühen 1960er Jahren über die britische Filmkultur. "Man könnte sich fragen, ob nicht die Begriffe Kino und England eigentlich unvereinbar sind", stellte der für seine Polemik bekannte Franzose damals fest. Tatsächlich wird das britische Kino der 1950er Jahre vielfach auf die Ealing Komödien und die Filme von Michael Powell und Emeric Pressburger reduziert.


Unbestritten ist auch, dass immer wieder britische Regisseure mehr noch als aus anderen Ländern wohl auch aufgrund der fehlenden Sprachbarriere und kultureller Affinität nach Hollywood abwanderten. Alfred Hitchcock ist dafür wohl das berühmteste Beispiel, aber auch in späteren Jahrzehnten wagten Regisseure von Karel Reisz über John Schlesinger bis zu Ridley Scott und Alan Parker diesen Schritt.


Gleichwohl gab es aber auch speziell während der Kommunistenjagd unter Senator Joseph McCarthy in den 1950er Jahren die umgekehrte Bewegung, als Filmemacher wie Edward Dmytryk, Jules Dassin und Joseph Losey aus den USA nach England emigrierten.


Die 44 Filme umfassende Retrospektive des Locarno Film Festival erinnert mit Filmen wie Dmytryks "Obsession" (1949), Dassins "Night and the City" (1950), Loseys "Time Without Pity" (1957) oder Cy Enfields "Hell Drivers" (1957) auch an diese Bewegung.


Ausgespart hat Kurator Ehsan Khoshbakht bei seiner Auswahl dagegen historische ebenso wie fantastische und außerhalb Englands spielende Filme, denn die Retrospektive soll das Leben im Nachkriegsengland spiegeln.


Weder Laurence Oliviers legendären Shakespeare-Verfilmungen "Hamlet" (1948) und "Richard III." (1955) noch David Leans Dickens Adaptionen "Great Expectations" und "Oliver Twist" oder seine Großproduktion "The Bridge on the River Kwai" (1957) noch Powell / Pressburgers Ballettfilme "The Red Shoes" (1948) und "Tales of Hoffmann" (1951) finden sich so in der Auswahl und auch Kriegsfilme und die Horrorfilme der Hammer Film Productions bleiben ausgespart.


Dafür kann man von Lean mit "The Passionate Friends" (1949) ein Dreiecksdrama entdecken und von Powell / Pressburger mit "I Know Where I´M Going" (1949) eine Komödie um eine junge Frau, die nach Schottland reist, um dort aus finanziellen Gründen einen Millionär zu heiraten.   


Nicht fehlen dürfen dabei mit Henry Cornelius´ "Passport to Pimlico" (1949) und Alexander Mackendricks "Whisky Galore!" (1949) Klassiker der Ealing Komödie, doch auch diese spiegeln einerseits eindrücklich die Zeitstimmung und dominieren andererseits nicht die Retrospektive.


Dafür gibt es vom bekannten Komödienregisseur Charles Crichton mit "Hunted" (1952) einen Krimi um einen Mörder, der mit einem Kind als Geisel durch halb England flieht, und mit Alexander Mackendricks "Mandy" (1952) ein semidokumentarisches Drama über ein gehörloses siebenjähriges Mädchen.


Carol Reed ist aufgrund der Fokussierung auf Großbritannien nicht mit seinem legendären "The Third Man" vertreten, sondern mit dem düsteren Thriller "Odd Man Out" (1947), in dem ein schwerverletzter irischer Freiheitskämpfer von der Polizei gejagt wird, sowie mit der feinfühligen Graham Greene-Verfilmung "The Fallen Idol" (1948).


Starke Krimis von Val Guests "Hell Is a City", in dem ein ausgebrochener Sträfling nach einem Raubmord ins Ausland zu fliehen versucht, über John Boultings "Brighton Rock" (1948), in dem ein jugendlicher Bandenführer eine junge Kellnerin unter Druck setzt, bis zu Lance Comforts "Temptation Harbour" (1947), in dem ein aufrechter Bahnwärter als Zeuge eines Verbrechens in den Besitz eines Koffers voll Geld kommt, bieten die Chance weitgehend vergessene Regisseure zu entdecken.


Der Blick wird so auch auf frühe Filme von Regisseuren gelenkt, die später in Hollywood Großproduktionen drehten. Von "The Guns of Navarone" (1961) und "Cape Fear" (1962) Regisseur J. Lee Thompson gibt es so den Krimi "The Yellow Balloon" (1952), in dem ein Kind in die Hände eines Verbrechers gerät, und der spätere James-Bond-Regisseur Lewis Gilbert ist mit "Cast a Dark Shadow" (1955) mit einem Thriller um einen Gattenmörder vertreten.


Von Terence Fisher, der später durch die Hammer-Horrorfilme bekannt wurde, gibt es die Dreiecksgeschichte "The Astonished Heart" (1950), die Fischer in Co-Regie mit Antony Darnborough drehte, und von John Guillermin, der 20 Jahre später "The Towering Inferno" (1974), "King Kong" (1976) und "Death on the Nile" (1978) drehte, wurde der Krimi "Never Let Go" (1960) ausgewählt.


Vor allem Genrefilme bietet so diese Retrospektive. Auffallend ist dabei die Fülle an Krimis, bei denen aber nicht die Suche der Polizei oder eines Detektivs nach dem Täter, sondern vielmehr die Verbrecher im Zentrum stehen. Als Musterbeispiel kann dafür Michael Powells bei der Uraufführung von der Kritik zerrissener und vom Publikum verschmähter Thriller "Peeping Tom" (1960) gelten, der erst in den späten 1970er Jahren durch den Einsatz von Martin Scorsese rehabilitiert wurde und inzwischen als Meisterwerk gilt.


Aber auch die bisher kaum beachtete Rolle von Frauen in der britischen Filmindustrie der Nachkriegszeit zeigt die Retrospektive auf. So deckt Jill Craigie in ihrem 18-minütigen Dokumentarfilm "To Be a Woman" (1951) eindrücklich die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen auf, aber auch für Genrefilme, im Speziellen für Komödien und Krimis zeichneten Frauen als Regisseurinnen, Drehbuchautorinnen oder Produzentinnen verantwortlich.


Muriel Box demontiert beispielsweise in der Komödie "Simon and Laura" (1955) den Mythos der "Fernsehwirklichkeit" und feiert in "The Happy Family" (1952) den Widerstand einer kleinbürgerlichen Familie gegen ein Regierungsprojekt. Wendy Toye erzählt dagegen in ihrem Kurzfilm "The Stranger Left No Card" (1952) von einem Fremden, der in einer Kleinstadt mit seinen Zaubertricks Aufsehen erregt.


Statt ein Wiedersehen bekannter Meisterwerke bietet die Retrospektive so mit ihrer Fokussierung auf vergessenen und wenig bekannten Filmen die Gelegenheit spannender und überraschender Entdeckungen und lädt - wie 2016 die Retrospektive zum deutschen Nachkriegskino - zu einer Revidierung des Bilds des britischen Nachkriegskinos ein.



Weitere Informationen zur Retrospektive des 78. Locarno Film Festival und eine Filmliste finden Sie hier.

 

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