Statt einer durchgetakteten Handlung Alltagsbeobachtungen in der georgischen Stadt Kutaissi entlang einer ungewöhnlichen oder unmöglichen Liebesgeschichte: Alexandre Koberidze vermischt Alltägliches mit Magischem zu einem wunderbar befreiten und befreienden Liebesfilm, der mit 150 Minuten allerdings vielleicht doch etwas zu lang geraten ist.
Ein Blick auf einen Schulhof und unterschiedliche Kinder steht am Beginn. Und immer wieder wird Alexandre Koberidze in seinem zweiten Spielfilm Gesichter von Kindern ins Bild rücken – vor allem lachende. Als sich der Platz geleert hat, kreuzen sich hier die Wege der in einer Apotheke arbeitenden Lisa (Ani Karseladse) und des Fußballers Giorgi (Giorgi Botschorischwili). – Doch nicht ihre Gesichter sieht man, sondern auf die Füße und ihre Schuhe richtet sich der Blick von Faras Fescharakis Kamera. Auch dieser ungewöhnliche Blick wird sich durch den Film ziehen.
Als sich Giorgi und Lisa unmittelbar darauf noch zweimal an derselben Stelle begegnen, verabreden sie sich für den nächsten Abend in einem Café. Doch beide werden am nächsten Morgen in verwandelter Gestalt aufwachen, sodass sie sich nicht mehr erkennen werden und zwangsläufig verpassen müssen. Aber auch ihre größten Talente verlieren sie und während die Medizinstudentin Lisa nicht mehr lernen kann, trifft der Fußballer Giorgi keinen Ball mehr.
Märchenhaft ist nicht nur dieser Einfall der Verwandlung, sondern auch, dass an einer Kreuzung ein Setzling, eine Überwachungskamera, ein Abflussrohr und der Wind Lisa schon vorab von dieser Verwandlung durch einen bösen Blick und einen Fluch erzählt haben. Darüber berichtet der Erzähler, der sich plötzlich zu Wort meldet und in der Folge durch den Film führt.
Dieser auktoriale Erzähler interagiert auch mit dem Publikum, wenn er erklärt, dass er das eine oder andere erst später erklären werde. Direkt werden die Zuschauer*innen aber auch über ein Insert angesprochen, mit dem sie aufgefordert werden, die Augen bei einem Signalton zu schließen und erst wieder beim nächsten Signal zu öffnen.
In dieser wunderbar befreiten Erzählweise bereitet "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" pures Glück. Da beweist einmal ein Regisseur, dass im Kino weit mehr möglich ist, als am Reißbrett entworfene Geschichten zu erzählen. Durchatmen lässt einen dieser Film in seinem befreiten Umgang mit den filmischen Mitteln und im Überbordwerfen aller Konventionen.
Gegen jeden Realismus kann hier auch ein Dialog der Protagonist*innen, der in einer distanzierten Totale gefilmt wird, in normaler Lautstärke vernommen werden, während man in anderen Szenen die Charaktere nur ihre Lippen bewegen sieht, aber statt Worten Musik zu hören ist.
Und überhaupt: Was ist das für ein variantenreicher, wunderbarer Soundtrack, den Giorgi Koberidze für diesen Film seines Bruders geschaffen hat. Kein Wunder ist es, dass eine Szene in der Musikschule spielt, denn von Klavier bis zu Harfe und von Oboe über Cello bis Trompete wird hier alles eingesetzt und zu einem Fußballspiel der Kinder liefert Gianna Nanninis 1990er WM-Song "Un´ estate italiana" den musikalischen Kommentar.
Die Emphase, mit der Koberidze in dieser Szene mit Zeitlupe und strahlenden Kindergesichtern Fußball feiert, macht diese Szene zu einer der schönsten Fußballszenen der Filmgeschichte. Doch nicht nur in dieser Szene spielt Fußball eine Rolle, auch der Titel kann darauf bezogen werden, und Fußball zieht sich wie die Liebesgeschichte durch den ganzen Film.
Denn nachdem sich Lisa und Giorgi aufgrund der Gestaltverwandlung im Café verpasst haben, nimmt sie in diesem Café eine Stelle als Bedienung an, er dagegen übernimmt für den Cafébetreiber die Betreuung einer Reckstange, an der Passanten gegen Entgelt ihre Kraft beweisen können. Beide hoffen durch den Aufenthalt am Verabredungspunkt dem anderen wieder zu begegnen, denn sicher sind sie, dass sie nicht sitzen gelassen wurden, sondern etwas Gravierendes dazwischen kam. Nah sind sie sich so, doch sie erkennen sich nicht und erst gegen Ende und ganz langsam kommt es zu einem Kontakt zwischen Lisa und Giorgi.
Während andere Regisseure auf ein Thema fokussieren, liebt es Koberidse zu mäandern und den Alltag zu beobachten. Da gibt es die Kinder, die vor Giorgis Wohnung Fußball spielen, ebenso wie den Besitzer des Cafés oder auch ein Filmteam, das sechs Paare filmen will, und schließlich die Fußball WM, für die sich nicht nur die Menschen interessieren, sondern auch Hunde, denen der Film zum Public Viewing folgt.
Und schließlich ist das auch ein Film über Kutaissi, die drittgrößte Stadt Georgiens, vom schmutzig-braunen Fluss, an dem Lisas Wohnung liegt über teils heruntergekommene Straßenzüge und das Meskhishvili Theater bis zur Musikschule und der weißen Brücke, an der das Café liegt.
Leichthändig verbindet Koberidze die Liebesgeschichte, in der es keine körperliche Berührung gibt, mit der Fülle an Alltagsbeobachtungen, lässt den Erzähler zwar kurz auch die Schrecken der Zeit ansprechen, feiert aber vor allem das Schöne, wie den Wert der einfachen Menschen und des Alltäglichen, die Freude am Fußball und die Liebe, die letztlich natürlich wichtiger als Fußball ist.
Etwas zu lang ist "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" mit seinen 150 Minuten vielleicht, aber dies verzeiht man diesem Film, der mit seiner befreiten Erzählweise und seinem so liebevollen Blick auf den Alltag und die Menschen verzaubert, ein Lächeln auf die Gesichter der Zuschauer*innen zaubert und gelöst aus dem Kino schweben lässt. – Mit dieser Wirkung widerlegt Koberidze gleich auch selbst den Erzähler, der gegen Ende den Nutzen dieses Films in Frage stellt, da er nichts über die Gesellschaft aussage.
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? Deutschland / Georgien 2021 Regie: Alexandre Koberidze mit: Giorgi Bochorishvili, Ani Karseladze, Oliko Barbakadze, Giorgi Ambroladze, Vakhtang Fanchulidze Länge: 150 min.
Läuft derzeit in den österreichischen und deutschen Kinos, z.B. am 22.6. im Filmforum Bregenz / Metrokino Bregenz.
Trailer zu "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?
Comments