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  • AutorenbildWalter Gasperi

74. Locarno Film Festival: Halbzeit bei der Leopardenjagd

Aktualisiert: 14. Aug. 2021


Acht der siebzehn Filme im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden wurden nun präsentiert, Favoriten lassen sich aber noch keine ausmachen.


Das Versprechen, dass kein Film im Wettbewerb dem anderen gleichen werde, hat Festivalleiter Giona A. Nazzaro bislang gehalten, denn die Vielfalt der filmischen Erzählweisen und Themen ist enorm. Durchaus Beachtenswertes konnte man entdecken, doch wirklich Begeisterndes, das sofort zum Preisanwärter avanciert, fehlt aber noch.


Schon am Beginn traf auf den hochpoetischen libanesischen Film "Al Naher – The River" mit "Nebesa – Heavens Above" eine deftige Balkonkomödie, dann folgte auf Axelle Roperts zurückhaltendes Teenagerporträt "Petite Solange" Lorenz Merz´ filmischer Rausch "Soul of a Beast". Zuletzt stand nun der leisen spanischen Komödie "Sis corrents dies – The Odd-Men Job" mit "After Blue – Paradis sale" eine wilde Science-Fiction-Western-Fantasie und mit "Gerda" ein düsteres Sozialdrama aus Russland gegenüber.


Wie mit versteckter Kamera gefilmt wirkt es, wenn Neus Ballus in "Sis corrents dies – "The Odd-Job Men" aus der Distanz durch einen Türrahmen zwei Installateure beim Reparieren eines Abflusses im Bad filmt. Leise Komik stellt sich schon ein, wenn der alte Pepe arbeitet, der jüngere Valero aber lieber eine Massagebürste studiert.


Auf eine Stellenanzeige für den in Rente gehenden Pepe meldet sich der Marokkaner Moha, doch Valero steht diesem von Anfang an ablehnend gegenüber, denn Spanier akzeptieren seiner Meinung nach keine ausländischen Handwerker. Von Anfang an ist für Valero so klar, dass Moha nach der einwöchigen Probezeit wieder entlassen wird.


Durch Inserts zu den Wochentagen gegliedert, spannt sich die Handlung von Montag bis Samstag und einerseits schildert Ballus die Spannungen zwischen den beiden Installateuren, andererseits bietet sie bei ihren Aufträgen Einblick in die Ärgernisse, aber auch in die witzigen Situationen, mit denen sie bei ihren Aufträgen konfrontiert werden. Da gibt ein älterer Herr dem korpulenten Valero Tipps für Ernährung und Fitnessübungen, zwei Mädchen sperren die Handwerker auf dem Balkon aus, eine Fotografin macht Moha kurzerhand zum Model und lichtet ihn mit nacktem Oberkörper mit Bohrer in der Hand ab. Und in der Villa eines Psychiaters spielen schließlich nicht nur die neu installierte Sprinkleranlage und der Sonnenschutz verrückt, sondern der Eigentümer befragt die beiden Arbeiter auch zu ihrer heiklen Beziehung.


Durch lakonische, teils fast dokumentarisch wirkende Erzählweise und genauen Blick entwickelt sich so eine kleine, aber sehr sympathische Komödie. Wenn hier mit sanftem Witz hinter die sonst verschlossenen Wohnungstüren geblickt wird, geht es auch um Isolation und Einsamkeit und im Blick auf die beiden Protagonisten um Vorurteile, die schließlich vielleicht doch überwunden werden können. Ganz wesentlich lebt "Sis dies corrents" dabei auch von den beiden wunderbar natürlichen Hauptdarstellern Valero Escolar und Mohammed Mellali.


Wie die beiden Installateure bekommt auch die junge Lera in Natalia Kudryashovas "Gerda" über Meinungsumfragen, die sie im Rahmen ihres Soziologiestudiums durchführen muss, Einblick in fremde Haushalte. Ungleich harscher und deprimierender als im spanischen Film sind allerdings diese mit einem Messie oder der tristen Wohnung einer Rentnerin. Vom privaten Schicksal Leras zu einem umfassenderen Bild der postsowjetischen Gesellschaft weitet sich "Gerda" mit diesen Hausbesuchen, denn auch das Leben der jungen Studentin ist an Tristesse und Hoffnungslosigkeit kaum zu übertreffen.


Um ihr Studium zu finanzieren jobbt sie in einem Nachtclub, in dem sie unter dem Namen Gerda für geile Männer fast nackt an der Stange tanzen muss, während sie sich zuhause um die depressive Mutter kümmern muss. Nicht genug damit werden Mutter und Tochter auch immer wieder vom gewalttätigen Vater, der nach Scheitern einer anderen Beziehung zur Ehefrau zurückkehren will, heimgesucht und terrorisiert.


Mit kaltem Licht, verwaschenen Farben, winterlicher Stimmung und tristen Settings wie den desolaten Plattenbauhochhäusern evoziert Kudryashova dicht die Tristesse und Hoffnungslosigkeit, gegen die die von Anastasiya Krasovskaya mit großem Körpereinsatz gespielte Protagonistin lange ankämpft. Doch gegen die bittere Realität helfen auf Dauer auch die die Handlung unterbrechenden Träume und Fantasien der Mutter von einem Leben in einer anderen und besseren Welt hinter dem Wald nicht.


Dem schonungslos harten Realismus von "Gerda" steht mit Bertrand Mandicos "After Blue – Paradis sale" eine ausgeflippte Fantasie gegenüber, die an Roger Vadims "Barbarella" erinnert. Auf einem Planeten, auf dem nur Frauen leben, schickt der Franzose, der mit dem surrealen "Les garcons sauvages – The Wild Boys" auf sich aufmerksam machte, eine Mutter mit ihrer Tochter auf die Jagd nach einer Mörderin. Wie das Duo in dieser Welt, in der es keine moderne Technik gibt, auf Pferden und bewaffnet mit Gewehren zunächst durch eine an "Mad Max" erinnernde Wüstenlandschaft, dann durch Wälder reitet, verschiedene Begegnungen macht und auch in eine düstere Mine eindringt, orientiert sich unübersehbar am Western.


Durchaus Sog kann diese wilde Fantasie durch das Spiel mit Licht und Farben, expressives Sounddesign und lange Überblendungen zunächst entwickeln, doch da sich hinter dieser Verpackung, der man mit ihren häufig unbekleideten Frauen auch den Vorwurf einer sexistischen Männerfantasie machen kann, nichts verbirgt, läuft sich das Vergnügen bald tot und ermüdet mit seiner Überlänge von fast 140 Minuten zunehmend.


Weitere Berichte zum 74. Locarno Film Festival:

- Vorschau - Eröffnungsfilm "Beckett"

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