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AutorenbildWalter Gasperi

74. Locarno Film Festival: Die Welt aus den Fugen in Stefan Ruzowitzkys "Hinterland"

Aktualisiert: 14. Aug. 2021


Hinterland (Stefan Ruzowitzky)

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs versetzt ein Serienkiller Wien in Angst und Schrecken: Die Story mag nicht besonders originell sein, aber beeindruckend ist, wie Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky ("Die Fälscher) mit Bildern, die an "Das Cabinet des Dr. Caligari", Graphic Novels oder "Sin City" erinnern, atmosphärisch dicht die Stimmung einer Welt beschwört, die aus den Fugen geraten ist.


Zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs kehrt Oberleutnant Peter Perg (Murathan Muslu) mit wenigen Überlebenden seines Trupps aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Österreich zurück. In Wien finden die Kriegsheimkehrer eine völlig veränderte Gesellschaft vor und sie, die ihr Leben für Gott, Kaiser und Vaterland eingesetzt haben, sind nun die Abgehängten und Außenseiter. Kritisiert und verlacht werden sie nun dafür, dass sie vor sechs Jahren ihre Familien verlassen haben, mittellos und psychisch schwer angeschlagen müssen sie im Armenhaus Unterschlupf suchen.


Während Pergs einstiger Freund zum Polizeipräsidenten aufgestiegen ist und sich auch um dessen Frau "gekümmert hat", muss sich der einst so gefeierte Inspektor erst orientieren. Angst hat er Frau und Tochter, die sich nach Niederösterreich aufs Land zurückgezogen haben, gegenüberzutreten und als einer seiner Kriegskameraden bestialisch ermordet wird, fällt zunächst auch noch der Verdacht auf ihn. Von dieser Beschuldigung kann sich Perg aber rasch befreien und als weitere Kriegsheimkehrer, mit denen er in Gefangenschaft war, unter grausamer Folter getötet werden, bietet er seine Dienste der Polizei an und beginnt zu recherchieren.


Die Handlung an sich ist nicht besonders originell, wirkt von Serienkillerfilmen wie David Finchers "Se7en" inspiriert und arbeitet auch mit allzu vielen Zufällen. Doch die Handlung scheint nur ein Vorwand, um dicht die Stimmung dieser Zeit zu beschwören. Noch vor die Bilder einsetzen, evoziert schon der Soundtrack von Kyan Bayana eine beunruhigende Atmosphäre. Künstlichkeit bestimmt dann von Beginn an die Bildebene. Nicht realistisch nähert sich Ruzowitzky dieser Umbruchszeit, sondern vor Bluescreen ließ er die Schauspieler*innen großteils agieren und ergänzte dann am Computer den Hintergrund.


Was in realistischer Nachstellung leicht verstaubt und theaterhaft hätte wirken können, entfaltet gerade durch seine Künstlichkeit Kraft und vermittelt dicht das Irreale, zutiefst Beunruhigende und Verstörende dieser Nachkriegszeit, in der die alten Ordnungen keine Gültigkeit mehr hatten. Eine Bildwelt wurde geschaffen, die vom vom Vorspann an vom expressionistischen Klassiker "Das Cabinet des Caligari" ebenso inspiriert ist wie von Graphic Novels oder "Sin City".


Durchgehend in dunkle und schmutzige Farben ist "Hinterland" getaucht, kaum eine horizontale oder vertikale Linie gibt es hier, sondern jedes Haus und jedes Zimmer ist in Schieflage. Spüren kann man hier, wie eine Welt aus den Fugen geraten ist, wie fremd die Gesellschaft ist, die Perg hier erlebt.


Im Visuellen spiegelt sich der völlige gesellschaftliche Umbruch mit Ablöse des Habsburger-Großreichs durch die kleine Republik, mit Kriegsinvaliden und Friedensdemonstrationen, mit gärendem Antisemitismus, Angst vor dem Bolschewismus und gleichzeitig schon aufkommendem Nationalsozialismus. Schwarzmarkt und Prostitution blühen auf den Straßen, mit Opium versucht man dem tristen Alltag zu entkommen und in den Cafés hört man statt Wiener Walzer und Operettenmusik auch amerikanischen Jazz – "Negermusik" wie die Forensikerin Dr. Körner, die in Perg verliebt ist, sagt. Rot leuchten in dieser düsteren Welt nur die österreichische Fahne oder sozialistische Banner bei Demonstrationen. Und zu den gekippten Perspektiven kommen immer wieder Top Shots, die die Figuren im Raum isolieren, sie einer höheren Macht ausgeliefert erscheinen lassen.


Großartiges haben hier Production-Designer Andreas Sobotka und Martin Reiter, Kostümbildner Uli Simon und Kameramann Benedict Neuenfels sowie in der Postproduktion Oleg Prodeus, Oliver Neumann und Ronald Grauer geleistet und beeindruckend zieht Stefan Ruzowitzky diese visuelle Komponente durch. Trotz der Orientierung an vielen Vorbildern fügt sich sein Film zu einem harmonischen Ganzen und nützt die Mord- und Rachegeschichte zu einer kongenialen Evokation dieser Zeit, in der Untergangsstimmung und Neubeginn, Altes und Neues permanent aufeinandertrafen.


Weitere Berichte zum 74. Locarno Film Festival:

- Vorschau - Eröffnungsfilm "Beckett"


Trailer zu "Hinterland"


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