Während Carlo Chatrian im Wettbewerb dem sperrigen Film eine Plattform bot, blickt der neue künstlerische Leiter Giona A. Nazzaro stärker aufs Publikum: Der Rückblick auf seine erste Ausgabe fällt durchwachsen aus.
Unter Carlo Chatrian war der Wettbewerb von Locarno mit der Fokussierung auf ästhetisch innovativen, aber sperrigen Filmen, die sich nicht um Erzählkonventionen scheren, teilweise mühsam. Geballt bekam man solche schwere Kost vom Italiener präsentiert, doch gerade mit diesem klaren Profil des Wettbewerbs und der Programmierung von Filmen, die im regulären Kino keine Chance haben, gewann er einerseits die Sympathien intellektueller Filmjournalisten und empfahl sich anderserseits als Nachfolger von Dieter Kosslick bei der Berlinale.
Nach einem kurzen Intermezzo von Lili Hinstin, die das Festival 2019 und die hybride Kleinfassung 2020 leitete, zeichnete nun erstmals Giona A. Nazzaro für das Programm verantwortlich. Schon vorab erklärte er, dass er ein Festival fürs Publikum machen wolle und dieses Versprechen hat er zweifellos gehalten.
Nur der Auftakt des Wettbewerbs mit dem libanesischen Film "Al Naher – The River" weckte Erinnerungen an Chatrians Zeiten. Dann aber folgten Komödien wie der deftige serbische "Nebesa – Heavens Above" oder der leise spanische Beitrag "Sis dies corrents". Mit dem isländischen "Cop Secret - Leynilögga" wurde eine zwar rasante, aber weder wirklich witzige noch spannende Parodie auf Polizeifilme präsentiert, bei der vor allem Beachtung fand, dass Regisseur Hannes Þór Halldórsson gleichzeitig Tormann der isländischen Fußballnationalmannschaft ist, und auch eine trashige Science-Fiction-Fantasie fehlte mit Bertrand Mandicos "After Blue - Paradise sale" nicht.
Weil ein italienischer Film angesichts der Nähe zu Italien im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden praktisch Pflicht ist, gab es das Kammerspiel "I Giganti", in dem fünf Männer endlose 84 Minuten in langen Dialogen ihr Elend beklagen, bis sie sich gegenseitig umbringen. Rätselhaft bleibt auch, wie es der nigerianische Beitrag "Juju Stories" in den Wettbwerb schaffte, in dem drei Episoden über Zauberei im heutigen Lagos erzählt werden.
Kopfschütteln rief auch der filmisch äußerst bescheidene spanische Beitrag "Espiritu sagrado" hervor, der wohl eine Satire auf Esoteriker und Ufologen sein soll, und die anfängliche Begeisterung über die Kampfszenen im indonesischen Beitrag "Seperti Dendam, Rindu Haurs Dibayar Tuntas - Vengeande Is Mine, All Others Pay Cash" ließ angesichts der ausufernden und zunehmend unübersichtlichen Erzählweise auch rasch nach.
Die Nähe zum Festival von Venedig und heuer auch zu dem aufgrund der Pandemie in den Juli verschobenen Cannes, das mit einem übervollen Programm auftrumpfte, und die Vorgabe, dass bei einem A-Festival, zu denen Locarno seit einigen Jahren zählt, im Wettbewerb nur Premieren laufen dürfen, macht die Programmierung sicher nicht leicht. Dennoch fragte man sich mehrfach nach einem Beitrag, ob man denn aus dem entsprechenden oder auch einem anderen Land denn wirklich nichts Überzeugenderes bekommen konnte.
Immerhin blitzte zwischen diesen entbehrlichen Filmen immer wieder Beachtenswertes auf, doch das überragende, rundum geglückte Meisterwerk stellte sich nicht ein. Zu dem russischen Sozialdrama "Gerda", dem ruhigen Teenagerporträt "Petite Solange", dem konzentrierten und sorgfältig inszenierten historischen Frauendrama "La place d´une autre" und den bildgewaltigen "Medea" und "Luzifer" kam zum Abschluss auch noch "Jiao ma tang hui - A New Old Play" des Chinesen Qiu Jiongjiong.
In bewusst künstlichen, gemalten Kulissen begleitet der 44-jährige Regisseur eine Theatergruppe vom China der 1920er bis in die 1960er Jahre. Spiel und historische Realität vermischen sich immer wieder und der Ansatz, der an Theo Angelopoulos´ "Die Wanderschauspieler" ist ebenso interessant wie die betonte Künstlichkeit. Indem Jiongjiong aber auf eine Identifikationsfigur verzichtet, immer wieder in der Totalen aus Zentral- oder auch Theaterperspektive erzählt, hält er aber auch den Zuschauer auf Distanz, bietet zwar interessante historische Einblick, lässt aber nie emotional in diese Zeit eintauchen.
Schwierig ist es auch aufgrund der Fülle an Personen der Handlung zu folgen und auch märchenhafte Szenen wie fliegende Menschen oder ein Blick durch einen Fotoapparat, bei dem die Bilder plötzlich Sepiafarben und stumm werden, sowie eine eingeschobene sehr private Geschichte um die Aufnahme eines Babys irritieren. - Interessant ist aber dieser Film allemal.
Nicht nachvollziehbar war aufgrund der durchwachsenen Qualität des offiziellen Wettbewerbs auch, warum einige durchaus sehenswerte Filme "nur" im Parallelwettbewerb "Cineasti del presente" liefen. Dies betrifft nicht nur den deutschen Beitrag "Niemand ist bei den Kälbern", sondern auch die schweizerisch-georgische Produktion "Wet Sand". In langsamem Rhyhthmus, der jeder Einstellung Raum lässt, aber eindringlich erzählt Eleni Naveriani vor der bildstarken Kulisse des Schwarzen Meers darin am Beispiel einer über Jahrzehnte geheim gehaltenen Liebe zwischen einem Restaurantbesitzers und eines Matrosen von Homophobie und aggressiver männlich-machistischer Dorfbevölkerung in Georgien.
Einen starken Eindruck hinterließ auch "Streams" des Tunesiers Mehdi Hmili. Im Zentrum steht eine Mutter, die alles für ihren erwachsenen Sohn tun will, nach einer Vergewaltigung, aber nicht als Opfer gilt, sondern wegen außerehelichem Sex zu einer Haftstrafe verurteilt wird. Während ihr Sohn ins kriminelle Milieu abgleitet, versucht sie nach Entlassung aus dem Gefängnis einen Neustart.
Hmili bietet dabei nicht nur mit dynamischer Kamera, schnellem Schnitt und der Nähe zu den stark gespielten Protagonist*innen zupackendes Kino, sondern bietet auch einen ebenso spannenden wie authentisch wirkenden Einblick in die Ambivalenzen der männlich dominierten tunesischen Gesellschaft.
Mit weiblichen Hauptfiguren und Abrechnung mit den Männern bestimmte auch diese Filme - und auch "Niemand ist bei den Kälbern" -, das sich auch durch Wettbewerbsfilme wie "Gerda" oder "Medea" zog.
In gewohnten Bahnen bewegte sich das Programm der Piazza Grande, aber die große Kinobegeisterung, die das jeder Vorführung vorangestellte Insert "Cinema is Back" auslösen sollte, stellte sich wohl höchstens bei Mamoru Hosodas Animé "Belle" ein. Solides Kino wurde mit "100 Minuten", in dem der 87-jährige russische Altmeister Gleb Panfilov nach Alexander Solschenizyns 1962 erschienenem ersten Roman "Ein Tag im Leben des Ivan Denissovitsch" vom harten Leben in einem stalinistischen Lager erzählte, doch ganz im Historischen bleibt dieser Film einerseits, lässt andererseits auch nie die Motivation des Regisseurs oder einen persönlichen Ansatz spüren. Ein stark gespielter, atmosphärisch dichter, aber sicher nicht herausragender Gangsterfilm über Familienbande ist auch John Swabs "Ida Red", aber um Kinoleidenschaft auszulösen, wären andere Kaliber nötig gewesen.
Die wirklichen neuen Kracher wie Denis Villeneuves "Dune" oder den neuen Bond "No Time to Die" bekommt eben Locarno nicht als Premiere, ältere Meisterwerke wie James Camerons "The Terminator" oder Michael Manns "Heat", die anlässlich der Verleihung von Ehrenpreisen an die Produzentin Gale ann Hurd sowie den Kameramann Dannte Spinotti gezeigt werden, werden wiederum auf der Piazza als zweite Filme, die jeweils um Mitternacht beginnen, programmiert. – Nachvollziehbar ist ja, dass man dem Publikum als Hauptact immer eine Weltpremiere präsentieren will, andererseits ist es doch gegenüber den Geehrten ein ziemlicher Affront ihnen zwar vor dem Hauptfilm einen Preis zu verleihen, ihren eigenen Film dann aber zum wenig attraktiven Nachttermin zu zeigen.
Und statt nur auf Weltpremieren zu setzen, wäre es vielleicht auch besser - sofern das möglich ist - wie in früheren Jahren ein paar Highlights von anderen Festivals wie beispielsweise Wes Andersons "The French Dispatch" oder Sebastian Meises "Große Freiheit" zu präsentieren.
Und auch gegenüber der Retrospektive sind gewisse Bedenken anzumelden: Dass hier der fast vergessene Neorealist Alberto Lattuada wieder entdeckt, ist zwar erfreulich, dass auf einem internationalen Festival seine Filme aber teilweise nur in der italienischen Fassung oder nur mit französischen Untertiteln, aber nicht mit den sonst allgemein üblichen englischen Untertiteln gezeigt wurden, ist schon befremdlich.
Insgesamt läuft Locarno mit der Neuausrichtung unter Giona A. Nazzaro so Gefahr, den internationalen Ruf, den sich das Festival unter Chatrian speziell mit dem kantigen Wettbewerb erworben hat, zu verlieren, auch wenn dieses Tessiner Filmfestival mit dem zugänglicheren Wettbewerb an Publikum gewinnen könnte. – So wünscht man sich für die kommenden Jahre, eine gesunde Mischung aus sperrigen Filmen, wie sie Chatrian pflegte, und leichter zugänglichen, gleichwohl künstlerisch überzeugenden Filmen im Wettbewerb und auf der Piazza statt der Fokussierung auf Weltpremieren wahrhaft große Filme, die wirklich Kinolust wecken.
Weitere Berichte zum 74. Locarno Film Festival:
- "Al Naher - The River" und "Nebesa - Heavens Above" (Wettbewerb) - Stefan Ruzowitzkys "Hinterland" - "Petite Solange" und "Soul of a Beast" (Wettbewerb)
- Sis corrents dies", "Gerda", "After Blue - Paradis sale" (Wettbewerb) - "Monte Verità", "La place d´une autre", "Niemand ist bei den Kälbern"
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