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  • AutorenbildWalter Gasperi

74. Locarno Film Festival: Weibliche Befreiungsschläge

Aktualisiert: 14. Aug. 2021


Monte Verità (Stefan Jäger)

Wie die fiktive Hanna Leitner in Stefan Jägers "Monte Verità" sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der Künstlerkolonie bei Ascona von den gesellschaftlichen Zwängen befreien will, so strebt die Protagonistin von Aurélie Georges´ "La place d´une autre" mit einem Identitätswechsel den Ausbruch aus der Unterschicht an. Nur weg aus der öden norddeutschen Provinz und der Landwirtschaft will schließlich eine junge Frau in Sabrina Sarabis "Niemand ist bei den Kälbern".


Die gesellschaftlichen Zwänge in der großbürgerlichen Gesellschaft im Wien des Jahres 1906 scheinen der jungen Hanna Leitner Maresi Riegner) geradezu die Luft abzuschnüren. Ihre beiden Töchter liebt sie zwar, doch nicht mitansehen kann sie, wie sie beim Unterricht diszipliniert werden, sie selbst erträgt zwar das Regiment ihres Mannes, doch ihre Asthmaanfälle sind hier zweifellos psychosomatisch bedingt.


In Behandlung war sie deswegen beim Psychiater Otto Groß (Max Hubacher), doch dieser hat sich in die Künstlerkolonie in dem oberhalb von Ascona gelegenen Monte Verità verabschiedet. Als Hanna von dort eine Postkarte erhält, folgt sie, ohne ihrem Mann etwas zu sagen, dem Arzt, ist aber zunächst vom dortigen Treiben mit Tänzen in der Natur und Nacktbaden geschockt und möchte sogleich wieder abreisen.


Ehe es aber dazu kommt, freundet sie sich mit Lotte (Hannah Herzsprung) und Ida (Julia Jentsch) an, die ebenfalls dort leben, ändert ihre Meinung, erfährt mit Otto Groß erstmals, wie lustvoll Sexualität sein kann und findet auch ihre Erfüllung in ihrer Leidenschaft für die Fotografie, von der ihr Mann immer glaubte, dass dies nichts für Frauen sei.


Fiktiv ist die Figur der Hanna Leitner, die zahlreichen Fotografien vom Monte Verità, die keinem oder keiner Fotografin zugeordnet werden können, haben Stefan Jäger zu dieser Figur angeregt. Mit ihren Augen taucht auch das Publikum in die Künstlerkolonie ein und lernt mit Hanna reale Personen wie Hermann Hesse, der von Plänen für ein Buch über Siddartha erzählt, die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan, die Musiklehrerin Ida Hofmann und den Industriellensohn Henri Oedenkoven oder die psychisch labile Lehrerin Lotte Hattemer kennen.


In lichtdurchfluteten, schwelgerischen Naturbildern feiert Stefan Jäger dieses befreite Leben, stellt dieser Befreiung in Rückblenden die gesellschaftlichen Zwänge in Wien gegenüber und feiert die Selbstfindung und Selbstermächtigung Hannas. Sehr solide, aber auch sehr konventionell ist das erzählt, originell ist aber die Arbeit mit den historischen Fotos, die Jäger hier immer wieder durch die Arbeit Hannas entstehen lässt.


Während "Monte Verità" außer Wettbewerb bei strömendem Regen auf der Piazza Grande und in zwei Kinosälen seine Premiere feiert, konkurriert Aurélie Georges´ "La place d´une autre" um den Goldenen Leoparden. Ins Paris des Jahres 1914 versetzt die Französin, die frei den 1873 erschienenen Roman "The New Magdalen" des vor allem durch "Die Frau in Weiß" bekannten Briten Wilkie Collins adaptierte. Bestechend verdichtet vermittelt die Regisseurin in wenigen Einstellungen, wie chancenlos speziell eine Frau aus der Unterschicht in dieser Zeit war.


Schuldlos verliert die Protagonistin eine Stelle als Dienstmädchen, als sie sich gegen den sexuellen Übergriff des Hausherrn wehrt, landet wieder auf der Straße, muss sich prostituieren und betteln, bis sie vom Roten Kreuz als Kriegskrankenschwester aufgenommen wird. Als an der Front eine vornehme Frau ums Leben kommt, nimmt sie deren Identität an und stellt sich mit dem Empfehlungsschreiben der Verstorbenen als Vorleserin im Landhaus einer reichen Dame vor. Rasch gewinnt sie deren Vertrauen, bis ihr Glück und ihre Welt bei einer Abendgesellschaft wieder zu zerbrechen droht.


Das Kino erfindet Georges mit ihrem dritten Spielfilm sicher nicht neu, doch sie erzählt so konzentriert, stringent und auf alle Nebengeschichten verzichtend, dass sich "La place d´une autre" zu einem runden und emotional dichten Kinoerlebnis entwickelt. Da verzeiht man dann auch das allzu rührselige und harmoniesüchtige Ende, bei dem das Herz über das Hirn siegt, sowie die allzu glatte Gegenüberstellung der grundgütigen Protagonistin und ihrer bösen Gegenspielerin.


Ins ländliche Norddeutschland der Gegenwart entführt dagegen Sabrina Sarabi in ihrer Verfilmung von Alina Herbings Debütroman "Niemand ist bei den Kälbern". Schon in den ersten Einstellungen kann man spüren, wie sehr die 24-jährige Christin (Saskia Rosendahl) das Leben auf dem Land und die Arbeit auf dem Bauernhof, den ihr Freund Jan von seinem Vater übernehmen soll, anödet. Die erste Gelegenheit nützt sie um mit einem Windpark-Techniker nach Hamburg abzuhauen, kehrt aber bald wieder zurück.


Weg möchte sie zwar, weiß aber sichtlich nicht wohin. In unaufgeregter Erzählweise, aber dicht evoziert Sarabi die Tristesse und Ödnis dieses Landlebens, in dem der Griff zum Alkohol zur Tagesordnung gehört, Christins Vater schwerer Alkoholiker ist, man sich bei Festen am Wochenende besäuft und auch nationalsozialistisches Gedankengut wieder Anhänger findet.


Auch ihre Freundin Caro lässt ihren Freund sitzen und haut mit einem neuen Schwarm ab, während Christin sich auf lustlosen Sex mit dem Windpark-Techniker einlässt, bis sie endlich die Konsequenzen zieht und der Befreiungsschlag durch nun dynamische Kamera und Musikeinsatz unterstrichen wird.


Nicht viel passiert hier im Grunde und auf Erklärungen verzichtet Sarabi, beschränkt sich auf die genaue Beobachtung des Alltäglichen und entwickelt gerade dadurch und durch die Fokussierung auf die von Saskia Rosendahl in der Zurückhaltung intensiv gespielten Hauptfigur eine nie nachlassende innere Spannung. – Zweifellos ist dies bislang einer der Höhepunkte des Festivals, schade allerdings, dass "Niemand ist bei den Kälbern" nicht im offiziellen Wettbewerb, sondern in der Reihe "Cineasti del presente" läuft.


Weitere Berichte zum 74. Locarno Film Festival:

- Vorschau - Eröffnungsfilm "Beckett"


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