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  • AutorenbildWalter Gasperi

75. Locarno Film Festival: Maders katholischer Internats-Horror und Geyrhalters "Müllfilm"

Aktualisiert: 13. Aug. 2022


Mit großer formaler Konsequenz erzählt Ruth Mader in "Serviam – Ich will dienen" mit den Mitteln des Thrillers und Horrorfilms von den Folgen übersteigerter Religiosität. Unverkennbar ein Film von Nikolaus Geyrhalter ist dagegen "Matter Out of Place", in dem der Österreich in großartigen, kommentarlosen Tableaus der globalen Anhäufung von Müll und dem Umgang damit nachspürt.


Der mädchenhafte Gesang eines Kirchenlieds, in dem Gott als Schutz und Zufluchtspunkt gefeiert wird, stimmt auf einen religiösen Film ein. Eine Abfolge statischer Einstellungen (Kamera: Christine A. Meier) eines katholischen Schul- und Internatsgebäude vermittelt in der strengen Form schon die strenge Ordnung, die an diesem Ort herrscht. Konsequent arbeitet Ruth Mader mit genau kadrierten, statischen Einstellungen in distanzierter Zentralperspektive, in denen die Figuren durch die karg ausgestatteten Räume zusätzlich isoliert werden.


Kontrast zu dieser spröden Form stellt sich aber mit einem Vorspann ein. Denn nicht nur die vertikalen und horizontalen Linien erinnern hier an die Vorspanne von Saul Bass für die Filme Alfred Hitchcocks ("Vertigo", "North by Northwest" und "Psycho"), sondern mehr noch die aufdonnernde Thriller-Musik an die Hitchcock-Soundtracks Bernard Hermanns.


Im Stil der letzten Filme von Jessica Hausner ("Hotel", "Little Joe") mischt so Ruth Mader religiöse Thematik mit dem Genrekino. Im Zentrum stehen eine junge Schwester (Maria Darus) und die 12-jährige Schülerin Martha. Beeinflusst von der Schwester, glaubt Martha, deren religiösen Vorstellungen mehrfach in irritierenden Animationsszenen visualisiert werden, alles für Gott tun zu müssen.


Selbst ein Bußgürtel, den ihr die Schwester gegeben hat, ist ihr nicht mehr genug. Doch da dieser Gürtel inzwischen schwere Wunden auf dem Bauch hinterlassen hat, verlegt die Schwester das Mädchen in den leerstehenden 5. Stock des Internats.


Lange Einstellungen von leeren Gängen oder des Stiegenhauses wecken Assoziationen an Kubricks "Shining", doch hier bricht keine äußere Gewalt aus. Auch als eine hartnäckige Schülerin hinter das Geheimnis von Marthas Verschwinden kommt, scheint das System kaum davon betroffen: Die Direktorin vertuscht den Vorfall und für die Schwester wird eine neue Aufgabe in der Ferne gefunden.


In kleinen Szenen bietet Mader in ihrem in den 1980er Jahre spielenden Film, in dem das Internat zur abgeschlossenen Welt wird, die erst ganz am Ende verlassen wird, immer wieder Einblick in Mechanismen und Auswirkungen dieser rigiden Erziehung. Wenn eine Außenseiterin von den Schülerinnen gemobbt wird, wird so spürbar, wie der Druck von oben an Schwächere weitergegeben wird, während eine Tanzdarbietung auf den Sportplatz Assoziationen an faschistische Veranstaltungen weckt. Aber auch die fehlende Eltern-Kind-Beziehung vermittelt Mader in wenigen Besuchen der reichen Eltern prägnant.


Beeindruckend evoziert Mader durch die formale Konsequenz ein Gefühl für diese kalte und rigide Welt, doch trotz des immer wieder mächtig aufdrehenden Soundtracks (Musik: Manfred Plessl) und des gezielten Spiels mit Genremitteln will echte Thrillerspannung nicht aufkommen. – Zu kalt ist dazu Maders Blick, kaum emotionalen Zugang zu ihren Figuren ermöglicht sie mit ihrer distanzierten Inszenierung und dem Verzicht auf Hintergrundinformationen zu den Figuren.


Von der ersten Einstellung an unverkennbar ein Film von Nikolaus Geyrhalter ("Unser täglich Brot", "Erde") ist "Matter Out of Place". In majestätischer Totale blickt die Kamera auf einen Stausee zwischen hohen, leicht verschneiten Bergen. Unberührt scheint diese Welt, doch mit einem Schnitt und dem Sprung zum Ufer des Sees wird die Verschmutzung, vor allem durch Plastikmüll, sichtbar.


Immer wieder arbeitet Geyrhalter mit dieser Methode. Da präsentiert er beispielsweise eine grüne Wiese in der Gegend des schweizerischen Solothurns, in der ein Bagger den zwischen den 1950er und 1970er Jahren deponierten Abfall zu Tage fördert. Paradiesisch wirkt ein Küstenstreifen der Malediven mit türkisem Meer und Hotelhüttchen, doch wieder offenbart ein Perspektivenwechsel die Umweltverschmutzung am Strand.


Herausgeputzt wirkt auch ein Schweizer Wintersportort, doch Unmengen an Müll fallen auch hier an, die freilich professioneller und sorgfältiger entsorgt werden als anderswo. Wie ein Müll-LKW an einer Gondel hängend ins Tal befördert wird, ist ebenso ein starkes Bild wie die offene Deponie bei Katmandu, in der LKW Unmengen an Müll abladen, in dem Müllsammler gleichzeitig nach noch Verwendbarem suchen.


Von den Bergen bis zu den Tiefen des Meeres und von der Schweiz bis nach Asien spannt Geyrhalter den Bogen, bietet Einblick in den unterschiedlichen Umgang mit Müll von der hochentwickelten Mülltrennungs- und Müllverwertungsanlage in Österreich bis zu den offenen Deponien in Ländern des Südens.


Auf jeden Kommentar und jede musikalische Untermalung verzichtet der österreichische Dokumentarfilm dabei wie gewohnt. Auch Menschen kommen nur in der Szene bei Solothurn zu Wort. Ganz auf die Macht seiner genau kadrierten und mächtigen Tableaus vertraut Geyrhalter und diese sind wie gewohnt grandios und bleiben haften, auch wenn "Matter Out of Place" insgesamt kaum neue Einblicke in die Thematik vermittelt.



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