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  • AutorenbildWalter Gasperi

75. Locarno Film Festival: Goldener Leopard für "Regra 34 – Rule 34" – Ein Resümee

Aktualisiert: 14. Aug. 2022


Mit dem Goldenen Leoparden für "Regra 34 – Rule 34" der Brasilianerin Julia Murat und drei Preisen für "Tengo sueños eléctricos" der Costa Ricanerin Valentina Maurel sind lateinamerikanische Filmemacherinnen die großen Siegerinnen eines niveauvollen Wettbewerbs. Herausragende Produktionen fehlten allerdings.


Zweifellos ein hochaktueller Film ist "Regra 34 – Rule 34". Julia Murat erzählt darin von einer farbigen Ius-Studentin, die im öffentlichen Bereich Missbrauch von Frauen anprangert, den sie als Folge der chauvinistischen Gesellschaft sieht. Im Privaten lebt sie ihre sexuellen Interessen als Webcam-Girl aus und findet dabei zunehmend auch an Sado-Maso-Praktiken, die sich von Würgespielen bis zum Einsatz von Messer und Glas steigern, Gefallen. – Oberstes Prinzip ist dabei freilich die Selbstbestimmung.


Spannend ist der Film in der Gegenüberstellung der beiden Ebenen, aber doch auch etwas theorielastig in den Diskussionen im Hörsaal, denen die Aktivitäten vor der Webcam gegenüberstehen. Etwas zu kurz kommt bei diesem Diskurs vielleicht doch eine echte Filmhandlung.


Mit drei Preisen zeichnete die vom Schweizer Produzenten Michel Merkt geleitete Jury das Coming-of-Age-Drama "Tengo sueños eléctricos" der Costa Ricanerin Valentina Maurel aus. Neben dem Preis für die beste Regie für Maurel gab es dafür auch Darstellerpreise für Daniela Marin Navarros Verkörperung der neugierig ihre erwachende Sexualität entdeckenden 16-jährigen Eva sowie für Reinaldo Amien Gutierrez für seine Darstellung von Evas cholerischem Vater.


Der Spezialpreis der Jury ging doch etwas überraschend an die italienische Komödie "Gigi la legge", in der Alessandro Comodin den ereignislosen Streifenfahrten eines Landpolizisten folgt.


Der Fipresci-Preis der Jury der Filmkritiker*innen ging dagegen an das bildstarke, aber in seiner Verknappung auch rätselhafte malaiische Drama "Stone Turtle", während die Ökumenische Jury ihren Preis an den Dokumentarfilm "Tales of the Purple House" vergab. Drei Stunden begleitet der libanesisch-irakische Filmemacher Abbas Fahdel darin seine Frau, eine Malerin durch die Zeit von 2019 bis 2022 und pendelt immer wieder zwischen Privatem wie dem ruhigen Leben im malvenfarbenen Haus und Öffentlichem von der Corona-Pandemie über die große Explosion im Hafen von Beirut und Demonstrationen gegen die Regierung bis zur Situation syrischer Flüchtlinge.


Der Publikumspreis für den besten Film auf der Piazza ging schließlich an die Tragikomödie "Last Dance", während der Variety Piazza Grande Award an "Annie colère" ging, in dem Blandine Lenoir vom Kampf für die Legalisierung der Abtreibung im Frankreich der 1970er Jahre erzählt.


Insgesamt bot der 17 Filme umfassende Wettbewerb durchaus ein ansprechendes und vielfältiges Programm, doch wirklich herausragende Werke, die Glanzlichter setzen, fehlten. Das indische Sozialdrama "Ariyippu – Declaration" vermochte so ebenso zu beeindrucken wie die formal konsequenten Filme "Serviam – Ich will dienen" von Ruth Mader und "Matter Out of Place" von Nikolaus Geyrhalter. Anhänger eines mehr assoziativen als narrativen Kinos kamen bei Helena Wittmanns Bilderstrom "Human Flowers of Flesh" und Ann Orens "Piaffe" auf ihre Kosten und Sylvie Verheyde präsentierte mit "Stella est amoureuse" einen stimmungsvollen und runden Coming-of-Age-Film.


Überschaubar blieben die Tiefschläge: Altmeister Alexander Sokurov enttäuschte mit seinem zwar visuell durchaus starken, aber inhaltlich repetitiven Höllenritt "Skazka – Fairytale", entbehrlich war der amateurhafte, an Monty Pythons "Die Ritter der Kokosnuss" erinnernde italienische Historienfilm "Il pataffio".


Auch der Schweizer Valentin Merz konnte mit "De noche los gatos son pardos" die Erwartungen nicht erfüllen. Weder überzeugt dieses Langfilmdebüt über Dreharbeiten eines queeren Sexfilms, bei denen plötzlich der Regisseur verschwindet, nämlich als Reflexion über Film und Realität noch als Auseinandersetzung mit Liebe und Tod. Stückwerk bleiben hier nicht nur die trashigen Sexszenen und spätere Zombie-Szenen, sondern auch die an Bruno Dumonts "P´tit Quinqin" erinnernden, aber witzlosen Ermittlungen der Polizei oder das Verschwinden von zwei Bestattern im Wald.


Ein Schweizer Film darf freilich im Schweizer Festival so wenig fehlen wie angesichts der Nähe zu Italien ein italienischer. – Aber waren wirklich keine besseren Produktionen als "De noche los gatos son pardos" und "Il pataffio" zu bekommen?


Nicht nur diese beiden Filme, sondern auch der Großteil der anderen Wettbewerbsfilme werden wohl relativ sang- und klanglos nach dem Festival wieder in der Versenkung verschwinden. Außer den beiden österreichischen Filmen, Helena Wittmanns "Human Flowers of Flesh" sowie den beiden lateinamerikanischen Siegern wird wohl kaum einer der Filme einen Verleih finden.


Immer wichtiger werden damit Festivals als Plattform für solche eigenwilligen Produktionen, die dann immerhin teilweise bei Streamingdiensten wie Mubi unterkommen und verbreitet werden. Dennoch bleibt nicht nur für den Wettbewerb die Frage, ob nicht wenigstens ein bis zwei herausragende Filme zu bekommen waren, die begeistern hätten können und bleiben.


Denn haften bleiben von diesem Festival neben Bildern der Filme von Mader und Geyrhalter wohl vor allem solche aus der Douglas Sirk gewidmeten Retrospektive. Unvergesslich ist einfach, wie dieser Meister des Melodrams beispielsweise in "All What Heaven Allows" mit dem Gegensatz von warmen Innenräumen und kalter Umwelt, wie er mit Licht, Farben und Kostümen arbeitet. Man kann Todd Haynes verstehen, der in seiner Einleitung erklärte, dass er endlos über diesen Film reden könnte.


Nicht nachzuvollziehen ist deshalb, wieso ein Meisterwerk Sirks wie "Imitation of Life" auf der Piazza Grande nur als zweiter Film um etwa Mitternacht gezeigt wird und nicht als Hauptfilm. Verständlich wäre es noch, wenn die Hauptfilme aktuelle Filmkunst von höchstem Niveau geboten hätten, doch über nettes Feelgood-Kino und eine sorgfältig gemachte und differenzierte, aber bildsprachlich fernsehhafte Migrantengeschichte ("Semret") kam hier das Angebot kaum hinaus.


Vielleicht sollte das Festival in Zukunft doch davon abgehen, den Fokus bei den Piazza-Filmen auf Weltpremieren zu legen und stattdessen lieber zumindest teilweise versuchen, wie in den 1980er Jahren David Streiff mit Vorpremieren von Festivalhighlights das Publikum in Begeisterung zu versetzen und Kinoleidenschaft, die über das Festival hinausreicht, zu wecken.


Die komplette Liste der Preisträger finden Sie hier.


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