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  • AutorenbildWalter Gasperi

75. Locarno Film Festival: Starke Teenagergeschichen

Aktualisiert: 13. Aug. 2022


Das letzte Schuljahr einer 17-jährigen Pariserin und Teenager, die schon Mütter sind oder werden: Im Hauptwettbewerb überzeugt Sylvie Verheydes "Stella est amoureuse", in der Sparte Cineasti del presente hinterlässt Julie Lerat-Gersants "Petites" einen starken Eindruck.


Vor 14 Jahren erzählte Sylvie Verheyde im autobiographischen "Stella" von der elfjährigen Stella, die aus proletarischem Milieu an ein bürgerliches Gymnasium kommt. Nun steht Stella vor dem Abitur, die Sommerferien vor und nach dem letzten Schuljahr rahmen den 1984/85 spielenden Film.


Mit Leidenschaft und Intensität beschwört Verheyde von Anfang an die jugendliche Gefühlswelt und versetzt mit Stellas Ich-Kommentar ebenso wie mit dynamischer Kamera und Schnitt in die Perspektive des Teenagers. Ganz auf Augenhöhe mit ihrer Protagonistin ist die Regisseurin und setzt mehr auf impressionistische Szenen dieses letzten Schuljahrs als auf Entwicklung einer stringenten Handlung.


Wenige Schulszenen vermitteln so Stellas Desinteresse am Unterricht, während Licht- und Farbdramaturgie sowie Musik mitreißend mit ihr in die aufregende Partywelt des Clubs Les Bains Douches eintauchen lassen. Hier verliebt sich Stella in den schwarzen Tänzer André, der sie bald auch wahrnimmt und eine Beziehung mit ihr beginnt.


Doch Verheyde entwickelt nun kein dramatisches Auf und Ab dieser ersten Liebe, sondern blickt daneben auch immer wieder auf Stellas familiäre Situation mit ihren nun getrennt lebenden Eltern und der schwierigen finanziellen Situation der Mutter oder auf die Freizeit mit ihren Freundinnen.


Ein rundes und vielschichtiges Bild dieses jugendlichen Lebens, in dem alles im Fluss ist, auch die Ungewissheit dazukommt, was man in Zukunft machen soll, wird so gezeichnet und mit der Leidenschaft der Inszenierung und dem großartigen Spiel von Flavie Delangle gelingt es Verheyde die Befindlichkeit Stellas hautnah zu vermitteln.


Während Verheyde ihren Film ihrer Mutter gewidmet hat, hat Julie Lerat-Gersant ihr Langfilmdebüt "Petites", das in der Schiene "Cineasti del presente" gezeigt wird, ihren Töchtern gewidmet. Mit naher Handkamera und dynamischem Schnitt vermittelt die Französin intensiv die Aufgekratztheit der schwangeren 16-jährigen Camille (Pili Groyne), die nach einem misslungenen Abtreibungsversuch vom Jugendgericht der Mutter entzogen und für sechs Monate in ein Mutter-Kind-Heim eingewiesen wird.


Hier lernt Camille nicht nur die junge Mutter Alison kennen, die mit der Fürsorge für ihre kleine Tochter völlig überfordert ist und lieber das Leben mit ihrem Freund genießt, sondern auch die Sozialarbeiterin Nadine, die sich leidenschaftlich für den Teenager einsetzt.


Einfühlsam arbeitet Lerat-Gersant anhand von Camilles Mutter, die ihre Tochter auch als Teenager bekommen hat und diese zunächst zur Adoption freigeben wollte, Alison und Camille die schwierige Situation von Müttern heraus, die selbst noch Kinder sind und das Leben genießen statt Verantwortung übernehmen wollen, zeigt aber auch mit der Entwicklung Camilles einen positiven Weg in die Zukunft für Mutter als auch Neugeborenes.


Mit unglaublich natürlichen Hauptdarsteller*innen und kraftvoll-zupackender Inszenierung entwickelt "Petites" dabei eine Authentizität, wie man sie in ähnlichem Maße zuletzt nur im Schweizer Heimfilm "La Mif" sah. Nichts wirkt so bei den Konfrontationen Camilles mit ihrer Mutter ebenso wie in den Szenen mit Alison oder bei einer Sitzung der Sozialarbeiter*innen gestellt oder gekünstelt, sondern durch diesen quasidokumentarischen Stil entwickelt dieses Debüt eine Intensität, durch die diese Figuren und ihre Probleme packen und haften bleiben.



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