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  • AutorenbildWalter Gasperi

La Mif


Fred Baillif zeichnet in seinem zweiten Spielfilm dichte Porträts von 14- bis 18-jährigen Mädchen, die in einem Westschweizer Heim für Jugendliche aus schwierigen familiären Verhältnissen leben, sowie der Heimleiterin: Ein durch seine Authentizität und seine energetische Inszenierung packendes Sozialdrama.


Schon mit der ersten Szene wirft Fred Baillif die Zuschauer*innen mitten hinein ins Heimleben. Hautnah an den heftig streitenden Teenagern ist die unruhige Handkamera, keinen Überblick gewährt sie, sorgt aber vom ersten Moment an für eine kraftvolle und energetische Erzählweise, die bis zum Ende nie nachlässt.


Wie bei diesem Auftakt spürt man durch den ganzen Film, dass Fred Baifllif genau weiß, wovon er erzählt und mit den Verhältnissen bestens vertraut ist. Jahrelang arbeitete der 48-jährige Genfer als Sozialarbeiter, als Filmemacher ist er Autodidakt. "La Mif" hat er zusammen mit den jugendlichen Laiendarstellerinnen entwickelt. Nur einen Plot, aber kein fixes Drehbuch gab es. Die Dialoge entwickelten die Jugendlichen selbst und man spürt in deren Spiel ihre eigene Heimerfahrung. – Mehr Authentizität als hier geboten wird, geht in einem Spielfilm kaum: Keine Szene, kein Dialog, keine Figur wirkt hier gekünstelt, aus dem quasidokumentarischen Charakter entwickelt dieses Sozialdrama einen großen Teil seiner Kraft.


Aber auch der Aufbau überzeugt. Baillif entwickelt keine lineare Handlung, sondern zeichnet durch Kapitelüberschriften getrennt Porträts der einzelnen Jugendlichen von Audrey (Anaïs Uldry) und Novinha (Kassia Da Costa) über Justine (Charlie Areddy) und die neu eintreffende Precieuse (Joyce Esther Ndayisenga) bis zu Tamra (Sara Tulu), Alison (Amélie Tonsi) und Caroline (Amandine Golay), aber auch der Heimleiterin Lora (Claudia Grob). So wiederholen sich Szenen mit einem neuen Kapitel teilweise wieder aus anderer Perspektive, andererseits weitet sich wie bei einem Puzzle sukzessive das Bild und drittens werden mit den einzelnen Jugendlichen auch verschiedene Problemfelder beleuchtet.


Audrey und mit ihr die Heimleiterin, die sich entschlossen für ihre Schützlinge einsetzt, bekommt Probleme, als sie im Heim Sex mit einem 14-jährigen Jungen hat. Novinha tritt eine Stelle als Praktikantin in einer Küche an, die Asylantin Tamra erhält den dritten Bescheid über ihre Abschiebung, Precieuse hat der Missbrauch durch ihren Vater ins Heim getrieben, während Justine aufgrund eines Traumas aus ihrem Elternhaus geflohen ist.


Spannung erzeugt Baillif auch durch den Aufbau von Geheimnissen, die er erst später lüftet. So mag auch die Heimleiterin, für deren Verkörperung Baillif mit Claudia Grob eine reale Heimleiterin gewinnen konnte, in allen Kapiteln präsent sein, in ihr Trauma und ihre schweren Schuldgefühle bekommt man erst gegen Ende Einblick.


Wie von Porträt zu Porträt das Bild vielschichtiger wird, so kommt man auch den Teenagern sukzessive näher, schließt sie ins Herz und ist berührt von ihrem schweren Schicksal und ihrer Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Perfekt spielen die Jugendlichen zusammen, bilden ein homogenes Ensemble, aus dem keine herausragt – Sie wirken ganz der französischen Verballhornung "La Mif" entsprechend wie eine Familie.


Wenn auf die Einzelporträts ein Kapitel mit der Überschrift "La Mif" folgt, erzählt Baillif auch davon, wie dieses Heim für die Jugendlichen eine familiäre Gemeinschaft geworden ist, in der sie erstmals erfahren haben, was Familie sein kann. So wirft der Regisseur auch die Frage auf, was Familie ausmacht. Gleichzeitig wird aber auch mehrfach betont, dass das Heim eben nur quasi eine Familie sei und die Betreuer zwar wie Eltern agieren mögen, es aber nicht sind, sondern diese Mädchen vielmehr, wie sich in mehreren Szenen zeigt, vor deren leiblichen Eltern beschützen müssen.


Aber auch intern gibt es immer wieder Streitereien, aber auch ausgelassene Momente im Schwimmbad oder beim Spiel im Garten. Wenn diese mit mehrstimmigem A-Capella-Gesang, Klavier- oder Violoncello-Musik unterlegt sind, während der Ton zurückgenommen wird, werden damit auch Pausen in dem sonst immer wieder atemlosen Film gesetzt.

In dieser kraftvollen Erzählweise und dem unverfälschten vitalen Spiel der Laien wird aber auch die Lebensfreude und Lebenslust dieser Jugendlichen spürbar. Dichte gewinnt "La Mif" zudem durch die Fokussierung auf und die Nähe zu dieser Gemeinschaft: Großaufnahmen der Gesichter dominieren, die räumliche Verankerung wird damit sekundär.


Aber auch Diskussionen der Heimleiterin mit dem Stiftungsrat, der um den guten Ruf der Institution fürchtet, oder Sitzungen der Betreuer spart Baillif nicht aus. – Und alles wirkt immer so echt, dass man nur staunen kann, dass dies ein Spielfilm und kein Dokumentarfilm ist. Nicht verwundern kann angesichts der Kraft und Intensität von "La Mif" aber, dass sich dieser Film zu einem Festivalliebling entwickelt hat und unter anderem bei der virtuellen Berlinale 2021 den Hauptpreis in der Sektion Generation 14plus und beim Zurich Film Festival das Goldene Auge und den Ökumenischen Preis gewann und in den Kategorien bester Spielfilm, bestes Drehbuch, beste Montage, beste Darstellerin und beste Nebenrolle für den Schweizer Filmpreis nominiert ist.


La Mif Schweiz 2021 Regie: Fred Baillif mit: Claudia Grob, Anaïs Uldry, Kassia Da Costa, Joyce Esther Ndayisenga, Charlie Areddy, Sara Tulu, Isabelle De Abreu Cannavo Länge: 111 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "La Mif"



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