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  • AutorenbildWalter Gasperi

75. Locarno Film Festival: Meditativer Bilderfluss und Anti-Krimi

Aktualisiert: 13. Aug. 2022


Statt auf Narration setzt Helena Wittmann bei "Human Flowers of Flesh" auf einen Fluss der Bilder und Töne, der meditativen Sog entwickeln kann. Alessandro Comodin legt dagegen mit dem Landpolizisten-Film "Gigi la legge" quasi einen Anti-Krimi vor, in dem statt Mörderjagd ein monotoner Berufsalltag im Zentrum steht.


Die Inhaltsangabe von Helena Wittmanns zweitem Spielfilm "Human Flowers of Flesh" liest sich ganz klar: Eine Frau – beiläufig erfährt man, dass sie Ida heißt – bricht mit vier Männern als Crew einer Segelyacht von Marseille auf, um den Spuren der Fremdenlegion zu folgen. Der Weg führt sie über Korsika nach Algerien.


Doch diese Storyline scheint für Wittmann in erster Linie ein Vorwand, um einen poetischen Fluss der Bilder und Töne zu entwickeln. Wie Angela Schanelec, an deren Stil sich Wittmann zu orientieren und ihn weiterzutreiben scheint, werden kaum zwingende Kausalketten bei der Aneinanderreihung langer, vorwiegend statischer Einstellung aufgebaut. Vielmehr evoziert das durchgängige Wechselspiel von Detailaufnahmen wie der eines Kalkfelsens, mit der der Film beginnt, und Totalen wie der der weiten Bucht, die bald folgt, ein Spannungsverhältnis, das auch ein Gefühl für das Transitorische evozieren kann.


Denn auch die Fremdenlegionäre scheinen in einer Zwischenwelt zu leben zwischen Heimat und Arbeitsort, zwischen Europa und Afrika, das einerseits durch das Meer, das immer wieder ins Bild gerückt wird, getrennt und andererseits auch verbunden wird. Von der Totalen dieses Meeres taucht die Kamera dabei auch einmal in die Tiefe ab und rückt ganz nahe an ein versunkenes Propellerflugzeug heran, bis nur noch die darüber wachsenden Algen sichtbar sind. Und ebenso stehen den Totalen des Meeres Makroaufnahmen von Zellen – oder sind es Meerestierchen? – gegenüber.


Einen Flow kann dieser Fluss der sorgfältig kadrierten und rhythmisch genau getakteten Bilder erzeugen, der durch die Tonspur mit Naturgeräuschen von Vögeln über Grillen bis zum Meeresrauschen noch gesteigert wird. Sehr reduziert ist dagegen der Dialog, steigert aber mit seiner Vielsprachigkeit ebenso wie Auszüge aus Friedrich Glausers Fremdenlegions-Roman "Gourrama", einem Roman von Marguerite Duras, sowie Briefe und Gedichte von Fremdenlegionären, die Idas Begleiter vorlesen oder Fremdenlegionslieder, die aus dem Off gesungen werden, ein Gefühl für die diffuse, nicht wirklich greifbare Welt der Fremdenlegion.


Klaren Protagonisten und klare Handlungsführung bestimmt dagegen Alessandro Comodins "Gigi la legge". Eine endlos lange statische Einstellung, in der der Landpolizist Gigi (Pier Luigi Mecchia) mit einem unsichtbar bleibenden Nachbarn über das Zurückschneiden oder Fällen der Bäume seines dschungelartigen Gartens diskutiert, stimmt schon auf den langsamen Erzählrhythmus dieses spektakulär ereignislosen Films ein.


Wenn Gigi auf der Fahrt mit seinem Streifenwagen an einen Bahnübergang kommt, an dem sich jemand vor einen Zug geworfen hat, könnte man noch glauben, dass Comodin nun einen Krimi entwickelt. Doch den tragischen Vorfall verliert der Film bald aus den Augen und konzentriert sich ganz darauf, Gigi bei seinen ereignislosen Fahrten durch das ländliche Friaul zu folgen. Statisch blickt dabei immer wieder die Kamera in langen Einstellungen bald auf Gigi, bald auf seinen Kollegen im Auto.


Einzige Abwechslung bringt sein Funkverkehr mit der Zentrale, in der eine neue, Gigi noch unbekannte Frau namens Paola sitzt. Über Funk beginnt so ein Scherzen und Flirten, das bis zur Einladung zum Abendessen geht. - Ob es auch wirklich zu diesem Date kommt, erfährt man aber nicht.


Leise Komik stellt sich auch aufgrund des Charmes von Hauptdarsteller Pier Luigi Mecchia bei diesem Funkkontakt ein und leise Komik durchzieht auch den Streifendienst, doch im Kern scheint es Comodin darum zu gehen, ein realistisches Gegenstück zu den handlungsreichen TV- und Kinokrimis vorzulegen. Der dortigen Action und Mördersuche stellt er die Ereignislosigkeit und den Stillstand eines Streifendiensts gegenüber, bei dem die ausgedehnten Autofahrten des iranischen Kinos ins Extrem getrieben werden


Und doch lässt Comodin gegen Ende tiefer in die Psyche Gigis blicken. Denn seine Erzählung von der Einlieferung eines psychisch kranken jungen Mannes fördert in diesem durch seine formale Konsequenz beeindruckenden, aber insgesamt doch etwas dünnen Films eine sehr sensible und feinfühlige Seite dieses Landpolizisten zu Tage.



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