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75. Berlinale: Zwischen Eiseskälte und Herzenswärme

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi

Aktualisiert: 23. Feb.

"La Tour de glace - The Ice Tower" von Lucile Hadzihalilovic und "O último azul – The Blue Trail" von Gabriel Mascaro im Wettbewerb der 75. Berlinale
"La Tour de glace - The Ice Tower" von Lucile Hadzihalilovic und "O último azul – The Blue Trail" von Gabriel Mascaro im Wettbewerb der 75. Berlinale

Die Berlinale nähert sich der Halbzeit, Bärenfavoriten lässt sich aber noch keiner ausmachen. Während Lucile Hadzihalilovic in "La tour de glace - The Ice Tower" in die eisige Welt des Märchens "Die Schneekönigin" entführt, bringt Gabriel Mascaro mit "O último azul – The Blue Trail" Wärme in die frostige deutsche Hauptstadt.


Die Erwartung, dass die Berlinale mit der Amerikanerin Tricia Tuttle als künstlerische Leiterin zu neuem Glanz und Glamour aufsteigen und der Wettbewerb wie in Cannes und Venedig zu einem Schaulaufen der großen Regisseur:innen des Gegenwartskinos werden könnte, hat sich – wie realistisch betrachtet, nicht anders zu erwarten – nicht erfüllt. Auch Frau Tuttles Kontakte werden Produzent:innenen und Regisseur:innen nicht dazu bewegen, ihre Filme der Berlinale statt den schon genannten Top-Festivals zu geben.


Weiterhin backt man so an der Spree folglich eher kleine Brötchen, aber auch diese können ja durchaus schmecken. Was letztes Jahr hinsichtlich Crowd-Pleaser-Qualitäten der iranische Film "My Favourite Cake" war, ist heuer "O último azul – The Blue Trail" des Brasilianers Gabriel Mascaro.


Zehn Jahre nach dem vielbeachteten Rodeo-Film "Boi neon" erzählt Mascaro von einem zukünftigen Brasilien, in dem die über 75-Jährigen in Kolonien abgeschoben werden. Per Flugzeugbanner und Lautsprecheransagen verkündet die Regierung zwar eine glorreiche Zukunft für alle, schränkt aber gleichzeitig das Leben der Seniorinnen konsequent ein. Man ehrt zwar die 77-jährige Tereza für ihr erreichtes Alter, entlässt sie aber gleichzeitig von ihrer Arbeitsstelle in einer Krokodilfarm, um produktiven jüngeren Arbeitskräften Platz zu machen.


Wenigstens möchte sie jetzt noch einmal mit einem Flugzeug fliegen, doch ihre Handlungsfähigkeit wird durch die Vormundschaft der Tochter eingeschränkt, sodass sie ohne deren Einwilligung kein Ticket buchen kann. So erkauft sie sich eine illegale Fahrt auf einem klapprigen Handelsboot zu einem kleinen Flugfeld.


In gewohnter Manier korrespondiert dabei die äußere Bewegung mit einer inneren. Tereza freundet sich langsam mit dem rauen Kapitän an und steuert bald selbst das Boot, erlebt aber nicht nur beim geplanten Flug einen Rückschlag, findet aber auch in einer anderen Kapitänin eine starke Freundin.


Leichthändig stellt Mascaro der Einengung und Bevormundung durch die Behörde das Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben seiner Protagonistin gegenüber. Dem Stillstand in der Kolonie und der Enge der Käfige, in denen die Senior:innen von der Polizei eingesammelt werden, steht die Fahrt auf dem Amazonas und die Weite der Flusslandschaft gegenüber.


Beiläufig werden dabei beim Blick auf sich am Ufer türmende Autoreifen Umweltverschmutzung und mit dem Hinweis, dass reiche Leute sich mit Geld den staatlichen Anordnungen entziehen können Korruption angesprochen, und auch Spitzelwesen wird kritisiert.


Getragen von der charismatischen Hauptdarstellerin Denise Weinberg entwickelt sich so ein warmherziges Flussmovie, das man angesichts der widerständigen Protagonistin, die auch an ihr US-amerikanisches Pendant "Thelma" erinnert, rasch ins Herz schließt und das berührend, aber nie aufgesetzt belehrend für Akzeptanz der Unabhängigkeit von älteren Menschen und gegen Abschiebung plädiert.


So bringt "The Blue Trail" Wärme in ein Berlin, in dem es nicht nur auf den eisbedeckten Fußwegen sehr kalt ist, sondern in dem auch die Journalist:innenen in der Presselounge, die im Keller des Berlinale Palastes eingerichtet wurde, angesichts der Kälte im Mantel an ihren Computern sitzen.


Noch größere Kälte verbreitet freilich Lucile Hadzihalilovic in "Le tour de glace – The Ice Tower", in dem die Französin Filmwelt und Leben, Märchen und Realität zunehmend verschmelzt. Im Zentrum des Anfang der 1970er Jahre spielenden Films steht die 16-jährige Jeanne, die aus einem Kinderheim in den verschneiten Bergen ausreißt, und in der Stadt im Tal in die Dreharbeiten einer Verfilmung von Hans-Christian Andersens Märchen "Die Schneekönigin" gerät.


Wie der Teenager von der Hauptdarstellerin fasziniert ist, ist andererseits auch der Star von der Jugendlichen fasziniert, gibt ihr sukzessive größere Rollen im Film, verlangt aber auch völlige Hingabe.


Zunehmend spiegeln sich so nicht nur die Handlung des Märchens und die Filmhandlung, sondern sukzessive deutlicher treten auch die Einsamkeit und Lebensmüdigkeit der tieftraurigen Schauspielerin und die Sehnsucht der elternlosen Jeanne nach einer Beziehung zu Tage.


Eindrücklich evoziert Hadzihalilovic in ganz ins Weiß des Schnees und Eises getauchten Bildern und mit einem starken Sounddesign eine frostige Atmosphäre, zelebriert dabei aber auch ihre Kunst ausgiebig. Form geht hier über Inhalt, wenn die Geschichte mit langsamen Kamerabewegungen in getragenem Rhythmus über fast zwei Stunden ausgedehnt wird und sich mit den großartigen Bildern viel Stimmung aber doch nur wenig Spannung entwickelt.



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