
Die Jubiläumsausgabe der Berlinale startete mit Tom Tykwers Familiendrama "Das Licht": Ein wuchtiges und bildmächtiges, aber auch überladenes und recht plakatives Filmerlebnis.
Neun Jahre nach seinem letzten Kinofilm "Ein Hologramm für den König" (2016) und nach vier Staffeln der TV-Serie "Berlin Babylon" (ab 2017) legt Tom Tykwer wieder einen Kinofilm vor. Nach den Literaturverfilmungen "Das Parfum" (2006), "Cloud Atlas" (2012) und "Ein Hologramm für den König" hat der 60-Jährige dabei nun auch wieder ein eigenes Drehbuch verfilmt.
Nach "Heaven" (2002) und "The International" (2009) durfte er mit "Das Licht" schon zum dritten Mal die Berlinale eröffnen. Bärenchancen darf sich Tykwer aber nicht ausrechnen, denn sein neuer Film läuft nicht im Wettbewerb, sondern in der Sektion "Berlinale Special Gala".
Wuchtig und kraftvoll ist schon der Einstieg, in dem Tykwer zwischen einem Berliner Asylantenheim, einem Kenia-Einsatz der etwa 50-jährigen Milena (Nicolette Krebitz), einem Auftritt ihres als PR-Manager arbeitenden Mannes Tim (Lars Eidinger), der eine Kampagne für soziales Bewusstsein und Verantwortungsgefühl lancieren will, dem in seinem höhlenartigen Zimmer ein Virtual Reality-Spiel spielenden Sohn (Julius Gause), und der Tochter (Elke Biesendorfer), die mit Freunden eine drogengeschwängerte Nacht durchfeiert hin- und herschneidet.
Mit seinem fulminanten Stil der Verschränkung, zu dem auch noch eine polnische Reinigungskraft kommt, die die mit Büchern und Schallplatten überfüllte große Altbauwohnung der Familie putzt, erinnert dieser Auftakt an "Cloud Atlas", in dem Tykwer auch mehrere, durch Jahrhunderte getrennte Geschichten in Parallelmontage verknüpfte.
Zusammengeführt werden die Handlungsfäden und die Figuren schließlich in der Wohnung, in der die Reinigungskraft, zunächst von allen unbemerkt, längere Zeit tot in der Küche liegt. Ersatz für die Verstorbene findet die Familie in der aus Syrien geflohenen Farrah (Tarrah Al-Deen), die eigentlich eine Ausbildung im psychiatrischen Bereich besitzt, aber lieber als Haushaltshilfe arbeiten will.
Die Zerrissenheit der Erzählstränge verweist vom Beginn an ebenso auf die Entfremdung innerhalb der Familie, wie ein Plakat von Michelangelos Antonionis "L´Eclisse", das in der Wohnung hängt. Doch mit der Ankunft Farrahs kommt in der Familie etwas in Bewegung. Im Gegensatz zu den Familienmitgliedern interessiert sie sich nämlich für diese Menschen, spielt mit dem Sohn das VR-Spiel, führt Gespräche mit dem Vater ebenso wie mit der Mutter und der Tochter.
Gleichzeitig folgt Tykwer aber immer wieder getrennt seinen Protagonist:innen auf ihren Wegen durch ein Berlin, in dem durchgängig ein heftiger Dauerregen niedergeht. Auch Musicalszenen baut er ein, wenn er die Mutter auf der Straße singend und tanzend ihre Identitätssuche reflektieren lässt, wenn der Vater ebenfalls singend im Fitnesscenter seine Angst vor dem Verlust der Männlichkeit thematisiert, oder wenn der Sohn in einer getanzten Szene von einem Treffen mit einem Mädchen träumt, das er nur aus dem Internet kennt, aber erst nach Drängen Farrahs zu kontaktieren wagt.
Große Gesangsszenen hat aber vor allem Milenas kleiner, aus einer Beziehung mit dem Afrikaner Godfrey stammende etwa siebenjährige Dio. Im Gegensatz zu den frustrierten und perspektivlosen Mitteleuropäer:innen sprüht er noch Lebensfreude aus und Tykwer setzt auch eine Animationsszene ein, um dessen Weltsicht zu vermitteln. Dazu kommen aber auch noch quasidokumentarische Szenen, die an die Flucht Farrahs aus Syrien erinnern.
Ähnlich wie Jacques Audiard in "Emilia Pérez" wagt so auch Tykwer einen wilden Genre-Mix und große Kraft und Drive entwickelt sein Film über weite Strecken. So ziemlich alle großen Themen der Gegenwart will er dabei in seinen Film packen, wenn zur Entfremdung der Familienmitglieder und dem Ruf des Vaters nach Umdenken der reichen Europäer und Übernahme von Verantwortung nicht nur mit dem Sohn das Abdriften in die Isolation durch Computerspiele und mit der Tochter auch Klimaaktivismus ins Spiel kommen.
Denn dazu kommt auch noch das Entwicklungsprojekt der Mutter in Kenia, das wohl von Tykwers eigenen Erfahrungen inspirieirt ist, rief er doch 2008 im ostafrikanischen Staat zur Entwicklung des afrikanischen Films das Projekt "One Fine Day" ins Leben rief. Analog dazu möchte Milena im Film in Nairobi ein Theater für Kinder und Jugendliche errichten, hat dabei aber immer wieder mit der Finanzierung durch den deutschen Staat zu kämpfen. Dazu kommt mit Farrah schließlich auch noch eine Flüchtlingsgeschichte, die am Ende an Gewicht gewinnt.
Deutlich überladen ist "Das Licht", dessen Titel sich auf ein LED-Licht Farrahs bezieht, durch das innere Wandlungen bei Menschen eingeleitet werden, mit dieser Fülle an Themen. Statt differenziert zu entwickeln, wird vieles plakativ hingeknallt, dennoch ist beeindruckend, wie sicher der 60-jährige Deutsche die Fäden zusammenhält und wie er den Drive auch mittels der beweglichen Kamera von Christian Almesberger über die beträchtliche Länge von 162 Minuten aufrecht hält.
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