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75. Berlinale: Frauen am Rande des Abgrunds

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi

Aktualisiert: 23. Feb.

Während Mary Bronstein in "If I Had Legs, I´d Kick You" hautnah und roh die Belastungen einer psychisch angeschlagenen Mutter vermittelt, versuchen in Yunan Qus "Girls on Wire" zwei junge Chinesinnen Mafiosos zu entkommen, die sie wegen Schulden verfolgen.


Immer wieder versucht man bei Filmfestivals Verbindendes der gesehenen Filme oder Trends auszumachen. Was dabei rauskommt, hängt aber nicht nur von den gesehenen Filmen, sondern vielleicht auch von der eigenen Wahrnehmung ab.


So kann der Eindruck, dass bei der heurigen Berlinale Tiere in ungewöhnlich vielen Filmen eine mehr oder weniger große Rolle spielen, vielleicht auch einer verzerrten Wahrnehmung entspringen. Auffallend ist aber dennoch, dass im chinesischen Wettbewerbsfilm "Living the Land" ein Schwein kastriert wird, "The Blue Trail" in den Schlachtraum einer Krokodilfarm führt, in "La tour de glace" ein Rabe eine nicht unwichtige Rolle spielt, in "Hot Milk" ein Hund während beinahe des ganzen Films kläfft und in den in der neuen Sektion "Perspectives" laufenden Debüts "Mit der Faust in die Welt schlagen" und "Baksho Bondi - Shadowbox" einerseits ein Fisch erschlagen, andererseits Frösche gefangen werden.


Dazu kommen in Vivian Qus "Girls on Wire" ein Rabe, der zunächst gehegt, dann als Tattoo auf dem Unterarm verewigt wird, und in Mary Bronsteins "If I Had Legs, I´D Kick You" ein Hamster, der arg unter die Räder kommt.


Gut möglich ist freilich auch, dass der Hamster nur in den Halluzinationen der Protagonistin Linda existiert. Denn ist der Auftakt mit einem Gespräch zwischen ihr und der Therapeutin ihrer offensichtlich mittels Schlauch künstlich ernährten, aber bis zum Ende des Films nur hörbaren, aber nahezu unsichtbar bleibenden Tochter noch realistisch, so mutet der folgende Wassereinbruch durch ein riesiges Loch in der Decke des Hauses schon sehr surreal an.


Irritierend ist aber auch, dass Linda zwar täglich einen Therapeuten besucht, gleichzeitig aber in einem direkt angrenzenden Raum selbst als Therapeutin Patient:innen empfangen soll. Entsprechend der im Film getätigten Aussage, dass Wahrnehmung Realität sei, scheint vieles folglich nur Halluzination der am Rande eines Nervenbruchs stehenden Protagonistin zu sein.


Vielleicht ist so auch nur die Krankheit des Kindes eine Angst der Mutter, real dürfte dagegen die Belastung durch die Abwesenheit des Ehemanns aufgrund seines Jobs als Navy-Offizier sein sowie ein nervender Parkplatzwächter.


Indem der Film mit Christopher Messinas Kamera hautnah Linda folgt, sie immer wieder in Großaufnahme ins Bild rückt, versetzt Bronstein die Zuschauer:innen in Lindas Perspektive und lässt auch für das Publikum deren Wahrnehmungen zur Realität werden.


In der Fokussierung auf die Hauptfigur und der atemlosen Erzählweise entwickelt "If I Had Legs, I´d Kick You" dabei zumindest über weite Strecken großen Drive und Intensität, die an John Cassavetes´ "A Woman under Influence" erinnern. Ähnlich mitreißend wie Cassavetes in diesem Klassiker die schwer angeschlagene psychische Verfassung einer Ehefrau mittleren Alters vermittelt, macht hier Bronstein, unterstützt von ihrer großartigen Hauptdarstellerin Rose Byrne, die Belastungen und Ängste einer Mutter erfahrbar.


Kraftvoll beginnt auch Yunan Qus "Girl on Wire" mit der Flucht einer jungen Frau vor ihrem Bewacher, der sie mit Drogen niederspritzen will. Bald gelingt es ihr auch Kontakt zu der als Stunt-Double bei Martial-Arts-Filmen arbeitenden Cousine zu knüpfen, von der sie Unterstützung erhofft. Doch während die Mafioso hinter ihr wegen der Schulden ihres drogensüchtigen Vaters her sind, muss die Cousine Schulden abzahlen, die sich in der Kleiderfabrik ihrer Mutter angesammelt haben.


Parallel zu dieser Gegenwartshandlung bietet Qu in sich durch den Film ziehenden und durch das enge 4:3-Format abgehobenen Rückblenden Einblick in die Geschichte der Cousinen, die gemeinsam aufwuchsen, bis sie als Teenager eigene Wege gingen.


Einen düsteren Blick wirft Qu so auf China, mischt Familiengeschichte mit Thriller, erzählt von Drogensucht und Mafia, deckt aber auch sehr plastisch die Ausbeutung von Stunt-Doubles auf. Doch so dynamisch und packend der Beginn ist, so verliert sich "Girl on Wire", dessen Titel sich auf die Lebenssituation der jungen Frauen ebenso wie auf die in Martial-Arts-Filmen an Seilen durch die Luft fliegenden Stunt-Doubles bezieht, doch zunehmend in einer teils kruden Gangstergeschichte, die eine überzeugende Einbettung in ein gesellschaftliches Umfeld vermissen lässt.



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