Filmbuch: "Was Kino kann – 99 Filmtipps für mobile Kinoarbeit"
- Walter Gasperi
- vor 7 Tagen
- 4 Min. Lesezeit

Das im Bertz+Fischer Verlag erschienene Buch der Freunde Ingelheimer Filmkultur e.V. ist ein leidenschaftliches Plädoyer fürs Kino als öffentlichem Ort des gemeinsamen Filmerlebens und feiert gleichzeitig mit 99 Filmtipps von Klassikern bis zu Geheimtipps die Vielfalt und den Reichtum der Filmkunst.
Die Lockdowns während der Corona-Pandemie verschärften die allgemeine Kinokrise. Öffentlicher Kinobesuch war nicht mehr möglich, dafür boomten die diversen Streamingangebote. Für den Medienwissenschaftler Thomas Meder war dies Anlass einen Blog zu starten, in dem er den Mitgliedern des Vereins Freunde Ingelheimer Filmkultur e.V. als Service für das "Kino zuhause" und Lese-Ersatz für die entfallenen Filme wöchentlich einen Film vorstellte. Rasch entwickelte sich daraus aber ein Plädoyer für das Kino als Ort des gemeinsamen Erlebens, des Events, der Filmdiskussionen und des Gesprächs.
In zehn Kapiteln werden jeweils rund zehn Filme vorgestellt, aber insgesamt eben nicht 100, sondern 99, um das nicht Abgeschlossene, das jede:r für sich noch ergänzen kann herauszustreichen. Einleitend wird aber auch Einblick in die Geschichte der Freunde Ingelheimer Filmkultur e.V. geboten, die 2012 aus der Not entstanden, da eine fixe Spielstätte fehlte.
So wurden Filmvorführungen an speziellen, im Idealfall zum jeweiligen Film passenden Orten organisiert. Der Bogen spannt sich von Christopher Nolans "Dunkirk" im Hangar eines Flughafens über Filme, die mit Wasser zu tun haben von Jacques Audiards "Der Geschmack von Rost und Knochen" und Helmuth Käutners "Unter den Brücken" bis zu J.C. Chandors "All Is Lost" im Bauch eines Lastkahns bis zu einer Kirche, einer Tiefgarage, einer Kelterhalle, der Produktionshalle einer Zimmerei oder einem stillgelegten E-Werk.
Betont wurde der Eventcharakter auch dadurch, dass eigene Plakate zu den Filmen gestaltet wurden, oder eine Vorführung von "Whiplash" von einem Konzert einer lokalen Modern Jazz Band oder die von Jim Jarmuschs "Patterson" von einem Vortrag des Filmwissenschaftlers Roman Mauer begleitet wurde.
So leidenschaftlich dieses Projekt aber auch gefeiert wird, so gibt es doch auch gewisse Bedenken. Wenn der Autor Thomas Meder bei einer Filmvorführung die mangelnde Verdunkelungsmöglichkeit anspricht, im Text zu Werner Herzogs "Grizzly Man" (S. 226f.) erwähnt, dass einige Zuschauer:innen den improvisierten Kinosaal vorzeitig verließen, "weil es im Herbst in der leer geräumten Halle einer Ingelheimer Zimmerei recht kühl wurde" und der Blick in die Filmvorführung in der Alten Markthalle (S. 15) oder einer Kirche (S. 105) Skepsis gegenüber Bestuhlung und Sound aufkommen lässt, stellt sich doch die Frage nach der Vorführqualität.
Denn Kino ist nun mal eine Kunst, die stark von der Technik abhängt. Da mag die ungewöhnliche Location für ein Event sorgen, aber für ein – heute oft beschworenes – immersives Filmerlebnis, für das die Regisseur:innen ihren Film gedreht haben, müssen auch Bildqualität und Stereoton bis hin zur Sitzreihenüberhöhung und einer Bestuhlung, die völlig in den Film eintauchen lassen, stimmen: Echtes Kinoerlebnis wird so letztlich nur ein perfekt ausgestattetes Kino bieten können.
Jenseits von diesen Einwänden bieten die 99 Filmtipps aber eine ebenso anregende wie kurzweilige Lektüre. Wie auch der Autor anmerkt, wirkt zwar paradox, dass das Buch und gerade das Kapitel "Darum braucht es diesen Ort" mit der Vorstellung der Netflix-Produktion "Marriage Story" beginnt, doch insgesamt beeindruckt die Auswahl durch ihre Vielfalt.
Arthouse-Hits der letzten Jahre wie "Systemsprenger" und "Portrait de la jeune fille en feu" werden ebenso vorgestellt wie weniger bekannte Filme wie İlker Çataks "Es gilt das gesprochen Wort" oder Rudolf Thomes "Paradiso – Sieben Tage mit sieben Frauen".
Klassiker von Buster Keatons "Sherlock jr." über Fritz Langs "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" und Roberto Rossellinis "Roma città aperta" bis zu Charles Laughtons "The Night of the Hunter" dominieren das Kapitel "Wegen solcher Bilder gibt es das Kino", während im Kapitel "Das F!F-Konzept. Besondere Filme an besonderen Orten" immer wieder die Besonderheit des jeweiligen Vorführorts herausgearbeitet wird.
Helden und Antihelden widmet sich ebenso ein Kapitel wie Filmen zum Verhältnis von Mensch und Tier oder solchen, in denen Reisen im Zentrum stehen oder aber die Musik eine entscheidende Rolle spielt. Mal geht Meder genauer auf die einzelnen Filme ein, mal fokussiert er nur auf einem Aspekt und bringt immer wieder seine Begeisterung für Musiker:innen wie Joni Mitchell oder diverse Bands ins Spiel.
Ausgehend von Nolans "Dunkirk" reflektiert der Autor so auch über Kriegsfilme im Allgemeinen oder er nimmt Maria Schraders Komödie "Ich bin dein Mensch" zum Anlass, um allgemein auf Künstliche Intelligenz im Film zu blicken. Nicht jeder der 99 Filmtipps widmet sich auch einem einzelnen Film, sondern auch ein Porträt der italienischen Regisseurin Lina Wertmüller oder ein Abschnitt über die Rolle des Walds im deutschen Film fehlen nicht.
Eindrücklich vermittelt dieses Filmbuch, das mit Filmstills, von den Freunden Ingelheimer Filmkultur e.V. selbst entworfenen Filmplakaten und Fotos der sehr speziellen Vorführorte auch ansprechend bebildert ist, in seiner Vielfalt und Buntheit so, wie aufregend und reich Filme sein können. Dabei weckt Meders von spürbarer Leidenschaft geprägte, nie akademisch-trockene, sondern immer leicht lesbare, aber auch Gedanken anregende Darstellung gleichzeitig mitreißend die Lust auf die vorgestellten Filme und Kino im Allgemeinen.
Freunde Ingelheimer Filmkultur (Hg.), Was Kino kann. 99 Filmtipps für mobile Kinoarbeit, Bertz + Fischer, Berlin 2023, 268 S., € 20, ISBN 978-3-86505-270-4
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