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Fiebrig, intensiv und kraftvoll: Das Kino des Jacques Audiard

Autorenbild: Walter GasperiWalter Gasperi

Jacques Audiard (geb. 30.4. 1952)

Erst spät drehte der 1952 geborene Jacques Audiard seinen ersten Spielfilm, entwickelte sich aber mit so wuchtigen Filmen wie "Un prohète", "De rouille et d´os" oder Dheepan – Dämonen und Wunder" zu einem der wichtigsten Regisseure Frankreichs. Das Xenix Kino in Zürich widmet Audiard im Dezember eine Retrospektive, bei der auch sein neuester Film "Les Olympiades" als exklusive Vorpremiere gezeigt wird.


Wenn ein tamilischer Freiheitskämpfer vor dem Krieg in seiner Heimat Sri Lanka nach Frankreich flieht, könnte daraus ein klassisches Sozialdrama werden, doch Jacques Audiard macht daraus in dem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten "Dheepan – Damönen und Wunder" (2015) einen schweißtreibenden Thriller, bei dem der Flüchtling in den Pariser Banlieues bald in einen Drogenkrieg verwickelt wird.


Alles nur nicht betulich und ganz sicher nicht um Ausgewogenheit bemüht ist das Kino von Jacques Audiard, sondern zupackend und kraftvoll, mehr am amerikanischen Genrekino orientiert als am europäischen Arthousefilm. Das Faible für das amerikanische Kino zeigt sich auch darin, dass er James Tobacks im New York der 1970er Jahre spielenden "Fingers" (1977) 2005 mit "De battre mon coeur s'est arrêté" ("Der wilde Schlag meines Herzens") ins Paris der Gegenwart verlegte.


Wie in dem mit acht Césars ausgezeichneten Thriller Romain Duris einen Mann spielt, der zwischen Karriere als Pianist und Geldeintreiber für seinen Vater, einen Immobilienhai, pendelt, so stehen immer wieder nicht nur zerrissene Figuren, sondern auch am Rand der Gesellschaft oder in der Illegalität lebende Männer im Zentrum von Audiards Filmen. Frauen spielen dagegen meist nur eine Nebenrolle.


Ganz in die Welt der Kriminalität taucht Audiard in "Un prophète" (2009) ab, in dem er mit einem großartigen Tahar Rahim in der Hauptrolle nicht nur die Machtstrukturen in einem Gefängnis durchleuchtet, sondern auch eine Entwicklungsgeschichte erzählt. Denn ist der 19-jährige Malik am Beginn seiner sechsjährigen Haftstrafe ein völlig verunsicherter Analphabet ohne soziale Kontakte und ohne Bewusstsein, dass es Familie und Religion geben könnte, verlässt er schließlich als respektierter und gemachter, wenn auch kaum im Sinne der Gesellschaft resozialisierter Mann die Anstalt.


Mehr als vom Gefängnis an sich erzählt Audiard dabei davon, wie einer sich durch geschicktes Benutzen und Ausspielen seiner Partner oder Gönner nach oben arbeitet und wie man Machtstrukturen für sich benutzen, untergraben und umwälzen kann. Auch diese Geschichte inszeniert Audiard freilich nicht als Sozialdrama, sondern als zupackendes Kinostück, das durch die Unmittelbarkeit und Direktheit der Inszenierung große physische Präsenz und enormen Drive entwickelt.


Dabei kam der am 30. April 1952 in Paris als Sohn des Drehbuchautors Michel Audiard geborene Franzose erst spät zum Film. Lehrer wollte er zunächst werden und begann ein Studium der Literatur und Philosophie an der Sorbonne, ehe er während der Ferien als Praktikant eines Cutters mit dem Medium Film in Berührung kam. Nach einigen Jahren als Schnittassistent, unter anderem bei Roman Polanskis "Der Mieter" (1976), begann er in den 1980er Jahren – zunächst zusammen mit seinem Vater - Drehbücher unter anderem für den Belmondo-Action-Film "Le Professionel" (1981), aber auch für Claude Millers brillanten Krimi "Mortelle randonnée" ("Das Auge", 1983) zu schreiben.


42 war Audiard schon als er 1994 mit dem Thriller "Regarde les hommes" ("Wenn Männer fallen") seinen ersten eigenen Film drehte und prompt den César für das beste Erstlingswerk gewann. Auf die während des Zweiten Weltkriegs spielende Tragikomödie "Un héros très discret" ("Das Leben: Eine Lüge", 1996) folgte mit "Sur mes lèvres" ("Lippenbekenntnisse", 2001) ein Gangsterfilm über die ungewöhnliche Beziehung zwischen einer fast tauben Sekretärin und einem Ex-Häftling.


Wie hier prallen in den Filmen Audiards immer wieder gegensätzliche Charaktere oder Milieus aufeinander, aus deren Reibungen sich Spannung entwickelt. So stehen in "De battre mon coeur s´est arrêté" dem Milieu der klassischen Musik das (halb)kriminelle und brutale des Geldeintreibers gegenüber und damit auch klassischer Musik Techno-Rhythmen und in "Un prophète" dem Frischling Malik ein alter korsischer Mafiaboss, der das Gefängnis kontrolliert.


Gleichzeitig verbindet diese Filme auch die Schilderung einer ungewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung, die auch in "De Rouille et d´Os" ("Der Geschmack von Rost und Knochen", 2012) nicht fehlt. Andererseits scheint die ungewöhnliche Beziehung zwischen einem alleinerziehenden Boxer und einer beinamputierte Orca-Waltrainerin in diesem grandiosen Melodram eine Wiederaufnahme der Konstellation in "Sur mes lèvres". So ungewöhnlich "De Rouille et d´Os" in dem weitgehend von Thrillern dominierten Werk Audiards ist, so unverkennbar ist dies im aufregenden und mitreißenden Körperkino, das geboten wird, und im kühnen Mix von Liebesfilm, Boxerfilm und Sozialdrama doch ein Film dieses Regisseurs.


Typisch für Audiard ist dabei auch, dass er nichts erklärt, sondern seine Figuren beschreibt, indem er sie in Aktion zeigt. In höchst filmischer Inszenierung kehrt er durch die Arbeit mit Kamera, Schnitt, Musik, aber auch durch das Spiel mit dem Licht Gefühle nach außen und versetzt das Publikum dadurch in die Befindlichkeit seiner Protagonisten.


Mag auch die zupackende und kraftvolle Inszenierung die Filme des 69-jährigen Franzosen verbinden, so versucht er doch gleichzeitig – ähnlich wie einst Stanley Kubrick – sich nie zu wiederholen und stets etwas Neues zu probieren. So legte er auch mit seinem ersten und bislang einzigen englischsprachigen Film "The Sisters Brothers" (2018) einen Western vor, bei dem er mit klassischen Motiven des Genres arbeitete, diese aber auch variierte.


So wechseln bei dieser Suche zweier Kopfgeldjäger nach einem Mann zwar in klassischer Westernmanier Szenen vom Ritt durch die grandiose Landschaft mit Szenen in Städten, die angesichts des Goldrausches aus dem Boden schießen, aber Audiard lässt sich auch viel Zeit für Alltägliches wie das Putzen von Zähnen oder Schneiden von Haaren. Und dann gibt es mit den beiden von John C. Reilly und Joaquin Phoenix mit viel Gespür gespielten Brüdern wiederum zwei sehr gegensätzliche Protagonisten.


Stärker als in anderen Filmen des Franzosen findet sich hier – wenn auch sehr schwarzer – Humor, gemeinsam mit diesen ist "The Sisters Brothers" andererseits, dass er zwar zunehmend düsterer wird, aber schließlich doch hoffnungsvoll endet. So sehr sich die Figuren nämlich auch in Schwierigkeiten und eine aussichtslose Lage verstricken, am Ende gönnt er ihnen dennoch immer wieder Erlösung und Glück – manchmal auch – wie in "Dheepan" ein jeder Realität widersprechendes und märchenhaftes.


Trailer zu "Un prophète"




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