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  • AutorenbildWalter Gasperi

76. Locarno Film Festival: Schwächelnde Piazza

Aktualisiert: 12. Aug. 2023


8000 Zuschauer:innen fasst die Piazza Grande und ist eines der schönsten Open-Air-Kinos der Welt. Die Weltpremieren, die hier aber gezeigt werden, sind leider meistens zweite Wahl und Begeisterung auslösen können meist nur Festivalerfolge wie Justine Triets Cannes-Sieger "Anatomie d´une chute".


Nur Festivalhits nachspielen wie einst in den 1980er Jahren Locarno-Chef David Streiff und heutzutage beispielsweise die Viennale will oder kann man in Locarno nicht. Weltpremieren sollen dem Publikum geboten werden. Gemeistert werden muss dabei freilich für diese große Freilichtbühne der Spagat zwischen qualitativ hochwertigem und massentauglichem Film.


Da aber die Zahl der großartigen Filme insgesamt doch begrenzt ist und große Namen doch eine Weltpremiere bei dem in drei Wochen startenden Filmfestival von Venedig der in Locarno vorziehen, muss man hier vielfach mit kleineren Filmen oder auch mit zweiter Wahl vorlieb nehmen.


Konnte schon der Eröffnungsfilm "L´étoile filante – The Falling Star" nicht überzeugen, so löste auch Frédéric Mermouds "La voie royale" keine Begeisterung aus. Potential hat die Geschichte einer Bauerntochter, die den Sprung an ein Vorbereitungsjahr für ein Physik-Studium an einer Elite-Universität schafft, zwar durchaus, doch Mermoud schöpft dieses nicht aus.


Ansatzweise geht es zwar um die Spaltung der Gesellschaft zwischen Eliten und bäuerlicher Bevölkerung, doch wirklich ausgelotet wird dieser Aspekt so wenig wie die Probleme der Landwirtschaft. Seltsam unentschlossen ist auch Mermouds Blick auf den Uni-Betrieb mit beinharter Professorin, die Student:innen auch niedermacht, und seltsam anachronistischen Einführungsritualen. Kritik an dieser Institution ist kaum zu spüren und auch der Filmtitel "Der königliche Weg" ist wohl kaum ironisch gemeint, sondern scheint in einem Studium an einer solchen Elite-Uni, für das freilich mit höchstem Einsatz gelernt werden muss, ein uneingeschränkt erstrebenswertes Ziel zu propagieren.


Nicht fehlen dürfen in der italienischen Schweiz und angesichts der Nähe zu Italien auf der Piazza freilich auch italienische Produktionen. Von vornherein muss man hier immer skeptisch sein, denn welcher italienische Regisseur zeigt seinen Film schon lieber in Locarno als wenig später in Venedig. So enttäuschte denn auch Laura Luchettis im Turin des Jahres 1938 spielender "La bella estate".


Sinnlich beschwört Luchetti zwar zunächst mit Blick auf Kleider und flirrender Sommerstimmung die Welt der in einem Modeatelier arbeitenden Ginia. Doch richtig Fahrt aufnehmen und emotionale Kraft entwickeln will dieses Melodram über das Erwachen dieser jungen Frau durch ihre Faszination für die selbstbewusst und unabhängig auftretende Amelia nicht. Ebenso gepflegt wie langatmig ist die Erzählweise und nur mit wenigen Details wird die Handlung in der Zeit des Faschismus verankert, zu dem die freigeistige Amelia, die nicht nur ihre männlichen Partner rasch wechselt, sondern auch zu Frauen sexuelle Beziehungen unterhält, einen Gegenpol bildet.


Ein ganz anderes Kaliber ist da Justine Triets in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneter "Anatomie d´une chute". Wie der Titel wohl von Otto Premingers klassischem Gerichtsdrama "Anatomie eines Mordes" inspiriert ist, so lässt sich "chute – Fall" auch dreifach lesen: als tödlicher Sturz sowie als daraus resultierender Gerichtsfall, aber auch als dabei zutage geförderter Fall einer Ehe.


Als nämlich der Ehemann der Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) tot vor dem Einfamilienhaus im Schnee gefunden wird, wird die Gattin aufgrund der Kopfverletzungen bald verdächtigt ihren Mann vom Balkon in den Tod gestürzt zu haben. Doch auch die Möglichkeit eines Selbstmords steht im Raum.


Werden zunächst die verschiedenen Möglichkeiten des Vorfalls nachgestellt, so konzentriert sich der Film bald auf den Prozess gegen die Gattin. Dabei geht es im Kern aber weniger um Schuld oder Unschuld, sondern vielmehr bekommen die Zuschauer:innen, die quasi in die Rolle der Geschworenen versetzt werden, Einblick, wie hier Staatsanwalt ebenso wie Verteidiger und Zeugen ständig mit Hypothesen und Vermutungen arbeiten, die Wahrheit aber letztlich unergründlich bleibt.


Am markantesten kommt dies wohl in der Tonbandaufnahme eines Ehestreits zum Ausdruck, der bald in eine Rückblende übergeht, aber kurz vor dem Ausbruch offensichtlich körperlich Gewalt in den Gerichtssaal zurückkehrt, sodass man sich allein aufgrund der Geräusche ein Bild davon machen muss, was wirklich geschehen ist.


Gleichzeitig zeichnet "Anatomie d´une chute" über den Prozess hinaus auch ein eindringliches Bild dieser Ehe, das hier auch in der Öffentlichkeit ausgebreitet wird, und auch die Rolle der Medien wird angerissen, wenn erklärt wird, dass doch der Mord einer Autorin an ihrem Mann medial wesentlich interessanter sei als der Selbstmord des Mannes.


152 Minuten ist dieser Film lang, aber keine Minute zu lang. Neue filmische Wege beschreitet Triet zwar nicht, aber ungemein dicht hat sie das perfekt konstruierte Drehbuch umgesetzt und aus den bis in die Nebenrollen perfekt besetzten Schauspieler:innen ragt Sandra Hüller heraus, die mit ihrer Verkörperung der Angeklagten diesen fesselnden Mix aus Gerichtsthriller und Drama trägt: Mehr solche Filme würde man sich auf der Piazza wünschen.



Weitere Berichte zum 76. Locarno Film Festival: - Vorschau - Eröffnung: L´étoile filante - The Falling Star"

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