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  • AutorenbildWalter Gasperi

76. Locarno Film Festival: Stimmungsbild und Direct Cinema

Aktualisiert: 12. Aug. 2023


Eindrücklich beschwört die Portugiesin Leonor Teles in "Baan" die Gefühlswelt der Generation Z, zu kurz kommt dabei aber die Handlung. In klassischer Direct Cinema-Manier begleitet dagegen der Franzose Sylvain George in "Nuit obscure - Au revoir ici, n'importe" marokkanische Kinder und Jugendliche, die auf den Sprung von der spanischen Enklave Melilla nach Europa hoffen, drei Stunden lang durch ihren bedrückenden Alltag.


"Zuhause" heißt die Übersetzung des thailändischen Titels von Leonor Teles´ erstem langen Spielfilm. Doch dieses Zuhause scheint es für die um 2000 geborene Generation Z nicht mehr zu geben, sondern Heimat scheint ebenso fluide wie die Beziehungen. Eindrücklich vermittelt die Portugiesin diese Heimatlosigkeit und Unbestimmtheit in ihrem fließenden Erzählstil.


Mehr auf die Erzeugung einer Stimmung setzt Teles als auf eine klare Geschichte. Im Mittelpunkt steht die Lissabonnerin El, die in einem Architekturbüro arbeitet, und eine Freundschaft, mit der aus Thailand gebürtigen, aber zuletzt in Toronto und London lebenden Kay beginnt.


Wie sich Kay nirgends zuhause fühlt, pendelt auch "Baan" zwischen Lissabon und traumartigen oder erinnerten Szenen in Bangkok. Großartig arbeitet Teles dabei mit Licht, Farben und Musik und orientiert sich unübersehbar an den Filmen von Wong Kar-Wei.


Zu dieser atmosphärisch dichten Beschwörung der Heimatlosigkeit, kommen auch weitere Unentschlossenheiten der heute etwa 20-Jährigen. Denn da arbeitet El einerseits in einem Architekturbüro, kritisiert aber bei einem Arbeitsessen den Kapitalismus ebenso wie in Graffitis. Als sie deswegen von ihrer Chefin kritisiert wird, rudert sie zurück, denn ihren Job möchte sie nicht verlieren. Parallel dazu engagiert sich die Asiatin Kay wiederum an einer Kampagne gegen Rassismus, den sie in England am eigenen Leib erfahren hat.


Doch mehr hingetupft, als wirklich ausgelotet werden diese Aspekte, leicht bleibt der Film im Schweben zwischen Orten und Szenen, zwischen Realität und Imagination. Mit einem Schnitt kann hier der Wechsel von Lissabon nach Bangkok erfolgen und nicht immer ist klar, wo man sich eigentlich befindet, aber gerade in dieser Schwerelosigkeit vermittelt Teles eindrücklich das Weltbürgertum dieser Generation.


Einen großen Flow kann dieser Fluss an stimmungsvollen Bildern entwickeln, doch insgesamt hätte die Handlung doch etwas mehr ausformuliert werden müssen. – So beeindruckend "Baan" nämlich auch als Stimmungsbild einer Generation ist, so ist das allein für fast 100 Minuten dann doch etwas wenig.


183 Minuten nimmt sich der Franzose Sylvain George in "Nuit obscure - Au revoir ici, n'importe" Zeit, um Einblick in den Alltag von marokkanischen Buben und Teenagern zu bieten, die in der spanischen Enklave Melilla gestrandet sind und von hier auf den Sprung nach Europa hoffen. In klassischer Direct Cinema-Manier verzichtet George auf jeden Off-Kommentar und beschränkt sich auf die begleitende Beobachtung.


Bestechend sind die Schwarzweißbilder, die mit starkem Kontrast von Licht und dunkler Nacht wohl auch das Spannungsfeld zwischen dem reichen Europa und den armen Jugendlichen auf die visuelle Ebene übertragen sollen. Allzu plakativ arbeitet George damit, wenn er die Kids vor hell erleuchteten Schaufenstern mit Luxuswaren stehen lässt oder durch die festlichen Weihnachtskrippen auf dem Marktplatz streifen lässt. Überzeugender ist hier schon der wiederholte Blick auf mächtige Mauern oder auf die Zäune, die die Kinder ausschließen und die sie immer wieder zu überwinden versuchen.


Wenn George zeigt, wie diese den Müll nach Essbarem durchstöbern, ihre bescheidenen Habseligkeiten in Gullis verstecken, unter Kartonschachteln oder in Unterschlupfen in der Nähe des Hafens schlafen, dann wird erschütternd ihre bedrückende Lage erfahrbar. Gleichzeitig beschwört der Film aber auch deren Vitalität und Lebensfreude, wenn man sie mit Scooter, Rollerblades oder Einkaufswagen über die Straßen fahren sieht.


Zu wenig erfährt man insgesamt aber über diese Straßenkinder, von denen nur zwei gegen Ende kurz über ihr Leben und ihre Motive für die Flucht erzählen. Zudem zeichnet George nicht plastisch Einzelschicksale, die einem nahegehen könnten, sondern changiert vielmehr immer wieder zwischen verschiedenen Kindern, die den Zuschauer:innen weitgehend anonym und fern bleiben. Aber auch die vielfältige Wiederholung von Alltagsszenen schwächt die Durchschlagskraft dieses Dokumentarfilms, der im Verhältnis zu seiner Länge von drei Stunden doch sehr wenig Einblicke und Hintergrundinformationen bietet.


Weitere Berichte zum 76. Locarno Film Festival: - Vorschau - Eröffnung: L´étoile filante - The Falling Star"

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