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  • AutorenbildWalter Gasperi

70. Berlinale: Preisträger und Bilanz


Der Goldene Bär ebenso wie der Preis der Ökumenischen Jury geht an „There Is No Evil“ des Iraners Mohammad Rasoulof, der Spezialpreis der Jury an Eliza Hittmans „Never Rarely Sometimes Always“ und die Darstellerpreise an Paula Beer und Elio Germano. – Eine Bilanz des ersten Festivals unter Führung des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek.


Etwas überraschend vergab die siebenköpfige Jury unter der Leitung des britischen Schauspielers Jeremy Irons den Goldenen Bären an „There Is No Evil“, denn bei den Kritikern kam der Episodenfilm, den der Autor leider nicht sehen konnte, nicht so gut an und lag beispielsweise im Kritikerspiegel der Fachzeitschrift Screen nicht im Spitzenfeld.


Wenn man bedenkt, dass sich Berlin immer als politisches Festival verstand und beispielsweise auch schon 2015 „Teheran Taxi“ des mit Arbeitsverbot belegten Iraners Javar Panahi mit dem Goldenen Bären auszeichnete, ist die Entscheidung allerdings doch nicht so überraschend. Einerseits erzählt Rasoulof nämlich in vier Episoden von dem Versuch in einer Diktatur seine individuelle Freiheit zu behaupten, andererseits wurde der Regisseur wie schon Panahi vor fünf Jahren mit einem Reiseverbot belegt, sodass er den Triumph seines Filmes nicht persönlich miterleben konnte.


Ganz vorne in der Kritikergunst stand dagegen Eliza Hittmans unaufgeregtes Teenager-Abtreibungsdrama „Never Rarely Sometimes Always“, das zurecht mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Verdientermaßen geht auch der Regiepreis an den Südkoreaner Hong Sangsoo für „The Woman Who Ran“.


Auch die Vergabe des Preises für den besten Darsteller an Elio Germano für seine Verkörperung des naiven italienischen Malers Antonio Ligabues in Giorgio Dirittis Biopic „Hidden Away“ geht in Ordnung, während es für Paula Beer („Undine“) angesichts der vielen starken Frauenrollen doch Alternativen gegeben hätte.


Mit dem silbernen Bären für das beste Drehbuch für „Favolacce“ („Bad Tales“) von den D'Innocenzo-Brüdern und dem Jubiläums-Silbernen Bären für „Effacer l´historique“ („Verlauf löschen“) von Benoit Delepine und Gustave Kervern zeichnete die Jury schließlich zwei Filme aus, die auf aktuellen gesellschaftlichen Problemen fokussieren, aber künstlerisch nicht überzeugen konnten.


Delepine / Kervern packen in den Alltag von drei Menschen des Prekariats nahezu alle Probleme der digitalen Zeit von Online-Kaufsucht über das Streben eine gute Bewertung im Internet zu bekommen bis zu TV-Seriensucht, endlose Warteschleifen bei Telefonanrufen, Erpressung durch Sex-Videos, Cyber-Mobbing und Zusatzverdienst mit Vermietung der eigenen Wohnung. Leider zünden aber die Gags nur selten, jeder Biss verpufft durch die oberflächliche Fülle und die Protagonisten bleiben zu unsympathisch, als dass man Mitgefühl entwickeln könnte.


An die Filme von Ulrich Seidl erinnert dagegen „Favolacce“, in dem die D´Innocenzo-Brüder einen Blick auf eine Siedlung im Brachland um Rom werfen und schockierende soziale Verhältnisse aufdecken. Kein Interesse zeigen hier die Eltern an ihren Kindern, ein rüder Umgangston herrscht, die sich selbst überlassenen Kinder beginnen Bomben zu basteln oder auch selbst Gift zu nehmen. - Eine erschütternde Milieuschilderung ist das, doch um wirklich zu überzeugen, fehlt der ebenso grimmige wie unerbittliche Blick eines Ulrich Seidl.


Insgesamt bewegten sich die 18 Wettbewerbsfilme durchaus auf einem ansprechenden Niveau, große Überraschungen und Sensationen blieben aber aus. Schade ist freilich, dass Kelly Reichardts herrlich unkonventioneller Western „First Cow“ und Burhan Qurbanis zwar nicht rundum gelungener, aber wuchtiger „Berlin Alexanderplatz“ bei der Preisverleihung leer ausgingen und Christian Petzolds starker „Undine“ „nur“ mit dem Preis der internationalen Filmkritik ausgezeichnet wurde.


Das erste Programm von Carlo Chatrian unterschied sich insgesamt nicht wesentlich von denen seines viel geschmähten Vorgängers Dieter Kosslick, auffallend war freilich der Verzicht auf große Hollywoodfilme und die Einführung eines zweiten Wettbewerbs für experimentellere Filme („Encounters“).


Eher kontraproduktiv wirkt letzteres, das an die Sektion „Cinéastes du présent“ bei dem von Chatrian zuvor geleiteten Filmfestival von Locarno erinnert. Mit diesen „Encounters“ werden nämlich dem unabhängig vom Hauptprogramm geführten „Forum des internationalen Films“ bekannte Namen und attraktive Filme weggenommen, andererseits führt dieser Wettbewerb ein Schattendasein neben dem Hauptwettbewerb und wird kaum angemessen wahrgenommen.


Bezweifeln darf man auch, dass der Verzicht auf Hollywoodfilme – vielleicht freilich heuer auch ein Zufallsergebnis – der richtige Weg ist, bringen diese doch immer zahlreiche Weltstars an die Spree, die heuer doch etwas fehlten. – Die große Wende nach der Kosslick-Ära brachten Chatrian / Rissenbeek somit in ihrem ersten Jahr wohl nicht. Man wird sehen, ob es dem Duo in den nächsten Jahren gelingen wird, den Wunsch der deutschen Filmszene zu erfüllen, die Berlinale wieder auf Augenhöhe mit Cannes und Venedig - oder zumindest wieder näher heran an diese Festivals - zu bringen.

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