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  • AutorenbildWalter Gasperi

70. Berlinale: Alfred Döblin meets Martin Scorsese

Aktualisiert: 1. März 2020


Burhan Qurbani hat Alfred Döblins 1929 erschienenen Roman „Berlin Alexanderplatz“ in die Gegenwart verlegt: Ein kraftvoller und wuchtiger Film, der teilweise an die Gangsterepen eines Martin Scorsese erinnert, aber den Schwung und die Spannung nicht über drei Stunden durchhalten kann. – Ungleich kleiner angelegt ist Sally Potters „The Roads Not Taken“.


Schon zwei Jahre nach Erscheinen des Romans wurde „Berlin Alexanderplatz“ von Piel Jutzi mit Heinrich George in der Hauptrolle erstmals verfilmt, legendär ist die 15-stündige Fernsehfassung, die Rainer Werner Fassbinder 1980 drehte. Den Originaltext von Alfred Döblin baut Burhan Qurbani, der 1980 als Sohn afghanischer Flüchtlinge in Deutschland geboren wurde, immer wieder durch eine Kommentatorin aus dem Off ein, davon abgesehen hat er die Vorlage aber radikal aktualisiert.


Aus Franz Biberkopf ist in dem in fünf Teile gegliederten und 183 Minuten langen Film so der junge Westafrikaner Francis (Welket Bungué) geworden, der im Gegensatz zu seiner Geliebten Ida bei seiner Flucht mit knapper Not dem Ertrinken im Meer entkommt. Dennoch ist diese Ida zumindest als Stimme immer wieder präsent, kommentiert als allwissende Erzählerin das Schicksal von Francis, weist von Anfang an auf sein Streben ein guter und anständiger Mensch zu werden, aber auch auf sein Scheitern hin.


Dass hier eine Leidensgeschichte erzählt wird, machen auch mehrmals Traumbilder von einem von Neonlicht erhellten Kreuz und einem Stier, der zur Opferbank geführt wird, deutlich. Auf diese Symbolik hätte Qurbani verzichten können, denn er versteht es auch sonst – zumal in den ersten zwei Stunden – mit dynamischer Erzählweise und starker Bildsprache zu packen.


Da schickt er seinen Protagonisten zunächst als illegalen Arbeiter auf eine unterirdische Großbaustelle – ein Tunnelbau? –, lässt ihn nach Kündigung den Angeboten des mephistophelischen Verführers Reinhold (Albrecht Schuch), der ihn ins Drogengeschäft bringt, erliegen, gewinnt bald die Achtung des Gangsterbosses Pums, der mit seiner Truppe um Reinhold auch Juweliergeschäfte überfällt und anschließend in Nachtclubs feiert.


Pralles und dichtes Kino bietet Qurbani hier mit seinem Gespür für Schauplätze, für Licht und Farbe, für große Kinobilder und eine vielstimmige Tonkulisse durch die Mischung von Off-Stimme, Dialoge und variantenreicher Musik, die sich von Elektro über einen deutschen Schlager bis zu Opernmusik im Finale und das Reinhold begleitende „Oh My Darling Clementine“ spannt.


In seinem Blick auf dieses Halb- und Unterweltmilieu und der energetischen Erzählweise erinnert dieser „Berlin Alexanderplatz“ teilweise an die Gangsterepen von Martin Scorsese. Wenn freilich mit dem Auftauchen des Escort-Girl Mieze (Jella Haase) das Tempo ruhiger wird und sich das Leben von Francis, der sich inzwischen Franz nennt und sich als Deutscher fühlt, zum Glücklichen zu wenden scheint, stellen sich auch Längen ein.


Da zeigt sich dann, dass Qurbani zwar der dicke Strich und bildstarke Szenen, die auch durch die Musik ihre Kraft entwickeln, liegen, dass er in leisen Szenen aber nicht die gleiche Spannung aufbauen kann. Das mag zum Teil auch an Jella Haase liegen, die als Mieze doch eher blass bleibt, während Welket Bungué den Lebenshunger von Francis, sein Bemühen ein anständiger Mensch zu werden und seine Sehnsucht nach Heimat ebenso überzeugend vermittelt wie Albrecht Schuch den psychopathisch-aggressiven Charakter von Reinhold.


Gering wiegen aber insgesamt die Schwächen angesichts der Größe dieses Projekts und der eindrucksvollen Behandlung der Ambivalenz und Abgründigkeit des Menschen sowie der Frage, wie viel man denn im Leben ertragen kann, bis man zerbricht.


Im Gegensatz zu diesem breiten und großen Wurf ist Sally Potters „The Roads Not Taken“ ganz klein angelegt. Im Mittelpunkt steht der verwirrte Schriftsteller Leo, der von seiner Tochter, deren Name er selbst nicht mehr weiß, und einer Pflegerin betreut wird. Diese Molly holt ihn am Morgen in seiner Wohnung, in der er mit leeren Augen im Bett liegt, ab, um mit ihm Zahnarzt und Augenarzt aufzusuchen.


Während die Umwelt wenig Verständnis für Leo zeigt, ihn gar nicht mehr wahrnimmt, sondern zum Ärger Mollys, immer nur über ihn, aber nie mit ihm spricht, setzt sie sich bedingungslos für ihn ein und vernachlässigt darüber auch ihren Job. Von der Gegenwart taucht Leo dabei immer wieder in Erinnerungen an einen Aufenthalt auf einer griechischen Insel, auf der er einen Roman schreiben wollte, oder an seine erste mexikanische Frau und einen traumatischen Verlust ab.


Getragen vom großartigen Spiel von Javier Bardem und Elle Fanning erzählt Potter so bewegend von der Achtsamkeit und Würde, die man auch und besonders beeinträchtigten Menschen entgegenbringen muss, aber auch von Bedauern und Reue über Entscheidungen im Leben, die nicht rückgängig gemacht werden können. – Für Schauspielerpreise bietet sich dieses intime Drama durchaus an.

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