
Mit Marco Bellocchios „Il traditore“, Yonfans Animationsfilm „Nr. 7 Cherry Lane“ und Kantemir Balagovs bitterem Frauendrama „Dylda – Beanpole“ laufen bei der Viennale drei Spielfilme, die sich ganz unterschiedlich mit Zeitgeschichte auseinandersetzen.
Der italienische Altmeister Marco Bellocchio zeichnet in „Il traditore“ in 150 Minuten die Geschichte des Mafiosi Tommaso Buscetta nach, der Mitte der 1980er Jahre sein Schweigen brach und mit seinen Aussagen zur Verhaftung zahlreicher hochrangiger Mafiosi beitrug. In reportagehaftem Stil spannt Bellocchio den Bogen über 20 Jahre und verankert die einzelnen Szenen mit zahlreichen Inserts zu Zeit und Ort des Geschehens.
Als Gegenpol zu Gangsterepen wie „Der Pate“ kann man „Il traditore“ sehen, denn jeder Glorifizierung der „ehrenwerten Gesellschaft“ verweigert sich der Film, vermittelt vielmehr drastisch deren Brutalität und zeigt auch deren Verbindungen bis in höchste staatliche Kreise.
Ungemein faktenreich ist dieser Film und wird von einem starken Pierfrancesco Favino in der Hauptrolle zusammengehalten, doch die Handlungsfülle erscheint auch als Problem, bleibt dabei doch kaum die Zeit mit Ausnahme Buscettas eine Figur oder eine Szene plastischer zu entwickeln. So genau das auch recherchiert und nachgezeichnet ist, so ermüdet der Film deshalb aufgrund der mangelnden Ausarbeitung der Hintergründe und Zusammenhänge letztlich doch zumindest den mit den Ereignissen nicht so vertrauten Zuschauer. – Ein starkes Gerüst ist da, aber das Fleisch, das um diesen Knochen nötig wäre, fehlt.
Gegenpol zu Bellocchios schonungslosem Blick auf die Mafia ist die nostalgische Beschwörung eines längst verschwundenen alten Hongkong in „Nr. 7 Cherry Lane“. Der 72-jährige in China geborene und in Taiwan und Hongkong aufgewachsene Yonfan lässt seinen Animationsfilm 1967 spielen, beschwört mit liebevoller Animation die Stimmung der britischen Kronkolonie, in der Proteste gegen die Kolonialherren und Demonstrationen für eine Annäherung ans maoistische China mit Gewalt niedergeknüppelt werden.
Doch dieser politische Hintergrund spielt nur am Rande herein. Im Zentrum steht die private Geschichte eines Englisch-Studenten, der der Tochter einer eleganten Taiwanesin Nachhilfeunterricht gibt und dabei eine Liebesbeziehung zunächst vor allem zur Mutter, dann aber auch zur Tochter entwickelt.
Immer wieder geht er mit der Mutter ins Kino, schaut vor allem Filme mit Simone Signoret wie „Room at the Top“ oder „Ship of Fools“ an, aus denen Ausschnitte in schwarzweißer Animationen nachgestellt werden, aber auch über Brigitte Bardot-Filme wird gesprochen, während Kinoreklamen an „Doktor Schiwago“ und „Die Reifeprüfung“ erinnern.
Literarische Referenzen wiederum gelten Charlotte Brontés „Jane Eyre“ und vor allem Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, denn Yonfan ist natürlich selbst auch in diesem in seiner sehnsuchtsvollen Stimmung an die Filme von Wong Kar-wei erinnernden Animationsfilm selbst auf der Suche nach dieser vergangenen Zeit der Metropole Hongkong, der der diesen Film auch gewidmet hat.
Bitter ist dagegen der Rückblick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Kantemir Balagovs „Dylda – Beanpole“. Schwer gezeichnet von den Kriegserfahrungen ist die junge Iya, die wegen ihrer Größe von allen nur „Bohnenstange“ genannt wird. Förmlich außer der Welt befindet sie sich in der ersten Szene, in der man nur ein Surren hört.
Neben ihrer Arbeit in einem Krankenhaus, in dem sie schwer verletzte Soldaten versorgt, kümmert sie sich um das Kind ihrer Freundin Masha, die noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Kurz vor deren Rückkehr stirbt Mashas Junge aber und Iya soll nun für Masha, die keine Kinder mehr bekommen kann, schwanger werden.
Langsam, aber konzentriert erzählt der 28-jährige Regisseur mit großer formaler Konsequenz und getragen von zwei starken Schauspielerinnen diese erschütternde Geschichte von zwei Frauen, die ganz auf sich selbst gestellt sind und verzweifelt um einen Neuanfang kämpfen.
Weitere Viennale 2019-Berichte: A Dog Called Money + Tlamess
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