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  • AutorenbildWalter Gasperi

Diagonale ´22: Von klassisch bis jugendlich-frisch - Ein Resümee


Eine neue Generation meldete sich mit Regisseurinnen wie Kurdwin Ayub ("Sonne") und Elena Wolff ("Para:dies") bei der 25. Diagonale in Graz zu Wort. Als Gegenpol zu diesen jugendlich-frischen Filmen gab es aber mit Constantin Wulffs "Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien" und Sabine Derflingers "Alice Schwarzer", der den Großen Diagonale-Preis für den besten Kinodokumentarfilm gewann, auch klassische Dokumentarfilme. Mit dem Großen Diagonale-Preis für den besten Kinospielfilm wurde Ulrich Seidls "Rimini" (Rezension folgt demnächst) ausgezeichnet.


Die Corona-Pandemie scheint die österreichische Filmproduktion nicht beeinflusst zu haben, denn vielfältig und reichhaltig präsentierte sich das heimische Filmschaffen bei der Diagonale in Graz. Das könnte sich aber rasch ändern, sollten die Fördermittel in der Schiene Filmstandort Austria (FISA) nicht rasch erhöht werden. Mit immer wieder ausverkauften Vorstellungen war aber auch der Publikumszuspruch sehr erfreulich.


Klassisches Direct Cinema in der Tradition eines Frederick Wiseman bietet Constantin Wulff, der in "Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien" kommentarlos Einblick in vielfältige Bereiche einer Institution bietet, die sonst vielfach nur dem Namen nach bekannt ist. Im Zentrum steht dabei immer wieder der Einsatz für Arbeitnehmer*innen, die von den Arbeitgeber*innen ausgebeutet und betrogen werden. Aber auch kulturelle Aktivitäten und eine Werbekampagne anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Arbeiterkammer werden nicht ausgespart.


Am Puls der Zeit ist Wulff, wenn er die Veränderung der Arbeitsbedingungen auch in der Arbeiterkammer in Zeiten der Pandemie dokumentiert, lässt die Mitarbeiter*innen der AK aber auch die Auswirkungen der Pandemie auf die soziale Situation der Arbeitnehmer*innen ansprechen. So sachlich-nüchtern Wulffs Blick ist, so ist der Film doch gleichzeitig ein entschiedenes Statement zur Bedeutung dieser Institution als wichtige Vertretung der Schwachen gegen ausbeuterische Unternehmen.


Sabine Derflinger porträtiert dagegen nach ihrem erfolgreichen Dokumentarfilm "Die Dohnal" in "Alice Schwarzer" die Ikone eine Ikone der zweiten Frauenbewegung. Ausgehend von einer heftigen Fernsehdiskussion 1975 mit Esther Vilar, die in ihrem Buch "Der dressierte Mann" behauptete, dass die Frau den Mann unterdrücke, zeichnet Derflinger mit aktuellen Interviews und Aufnahmen in der Redaktion der Zeitschrift "Emma" sowie einer Fülle von Archivmaterial ein ebenso dichtes wie unterhaltsames Bild des vielfältigen Engagements Schwarzers.


Auf einen chronologischen Aufbau verzichtet die Oberösterreicherin, strukturiert ihren Film vielmehr thematisch und verschränkt immer wieder Vergangenheit und Gegenwart, wenn dem Kampf gegen das Abtreibungsverbot in den 1970er Jahre heutige Proteste dagegen in Polen und Texas gegenübergestellt werden.


Von Schwarzers prägendem Aufenthalt im Paris der frühen 1970er Jahre über den Kampf gegen sexistische Titelseiten im Magazin Stern und die Unterdrückung der Frau in Algerien und im Iran Khomeinis bis zum Kampf gegen die Prostitution und ihre umstrittene Berichterstattung über den Kachelmann-Prozess im Jahr 2010 für die Boulevard-Zeitung Bild spannt Derflinger den Bogen.


Das reiche Archivmaterial bietet nicht nur einen Einblick ins machistische Verhalten der Männerwelt in den 1970er Jahren wie des Stern-Herausgebers Henri Nannen oder des Schauspielers Klaus Löwitsch, sondern dokumentiert auch plastisch den Wandel der Medienwelt und der Geschlechterrollen in den letzten 50 Jahren. – Fast verlieren kann man sich freilich in der Fülle, bei der alles gleichwertig nebeneinander steht und nichts besonders akzentuiert wird.


Eine unterhaltsame Komödie gelang Michael Ostrowski und Helmut Köpping mit "Der Onkel – The Hawk", in dem ein Mann, der sich als Spieler und Frauenheld durchs Leben geschlagen hat, sich nach 17-jähriger Abwesenheit in der Familie seines als Anwalt erfolgreichen Bruders einnistet, als dieser ins Koma fällt. Wie dieser von Ostrowski selbst gespielte Mike nicht nur das Leben der Gattin seines Bruders, sondern auch von dessen beiden halbwüchsigen Kindern und den Nachbarn aufmischt, ist mit viel Situationskomik und Dialogwitz inszeniert und unterhält auch dank gegensätzlicher Typen und eines lustvoll aufspielenden Ensembles bestens.


Nach neun Jahren endlich wieder eine neue Arbeit gab es auch von Götz Spielmann zu sehen, wenn auch nur eine Folge der TV-Serie Landkrimi. Wie in seinem Oscar nominierten "Revanche" entwickelt Spielmann in "Der Schutzengel" in langsamer, aber konzentrierter Erzählweise einen dichten Krimi, in dem bald klar ist, wer der Täter ist und sich Spannung aus der Frage entwickelt, wie dieser vom Inspektor überführt wird.


Gekonnt verschachtelt der gebürtige Oberösterreicher nicht nur Zeitebenen und bringt auch ein lange zurückliegendes Verbrechen ins Spiel, sondern spielt auch, wie in "Revanche" oder "Oktober November" mit dem Spannungsfeld von Großstadt Wien und ländlicher Region, setzt auf facettenreiche Figurenzeichnung und baut mit Bezügen zu Friedrich Nietzsche auch einen philosophischen Unterbau ein.


Neben diesen renommierten Regisseuren meldete sich in Graz aber auch eine junge Generation zu Wort, die auch filmsprachlich eigene, jugendgemäße Wege geht. Kurdwin Ayub lässt in ihrem bei der Berlinale als bester Erstlingsfilm ausgezeichneten "Sonne" nicht nur eine kurdischstämmige Wiener Gymnasiastin, die mit zwei Freundinnen ein youtube-Video zu "Losing my religion" mit Hijab aufnimmt, nach Identität zwischen traditioneller Kultur und westlicher Popkultur suchen, sondern ist mit Formatwechsel zwischen Kinobild und Handyvideo und eingeschnittenen Whatsapp-Chats auch ganz auf Augenhöhe mit den Jugendlichen.


Gewöhnungsbedürftig ist diese Filmsprache und Ayub übertreibt es wohl etwas mit den Formatwechseln, andererseits gewinnt "Sonne" damit Frische und Vitalität und macht nicht zuletzt durch die unverbrauchten und natürlichen Laiendarsteller*innen die Gefühls- und Erlebniswelt heutiger Jugendlicher hautnah erfahrbar.


Einen unkonventionellen Zugang wählte auch Elena Wolff, die ihr Spielfilmdebüt "Para:dies" wie einen Dokumentarfilm anlegt, bei dem eine Kamerafrau das Pärchen Jasmin und Lee filmt, das sich von Berlin ins leerstehende Haus von Lees Eltern im ländlichen Salzburg zurückgezogen hat. Wenn Julia Windischbauer und Elena Wolff als Jasmin und Lee direkt in die Kamera über ihre Beziehung sprechen, wirkt dies echt und natürlich. Langsam treten aber auch Spannungen in der Beziehung und Traumata zu Tage, bis der scheinbare Dokumentarcharakter gebrochen wird und die Kamerafrau sich zu dem Pärchen auf die Couch setzt.


Ziemlich zäh ist "Para:dies" zwar in der Konzentration auf einen ereignislosen Alltag und der radikalen Fokussierung auf Jasmin und Lee, lotet aber andererseits überzeugend die schwierige Identitätsfindung, Beziehungsprobleme und die Schwierigkeit eines queeren Lebens in ländlichen Regionen aus.


Und auch im Genrekino gab es mit Johannes Grenzfurthners "Masking Threshold" einen ziemlich radikalen Horrorfilm zu entdecken. Wie der weitgehend unsichtbar bleibende Protagonist in seinem Zimmer in einem Selbstversuch seinem Tinnitus auf die Spur zu kommen versucht und sich dabei zunehmend in einen Wahn hineinsteigert, bei dem die Tötung von Ameisen und Nacktschnecken erst der Beginn ist, kann durch Bild- und Tonsprache durchaus Verstörung auslösen. – Gespannt sein darf man somit nicht nur darauf, was Grenzfurthner auf diesen Horrortrip, der an Darren Aronofskys Debüt "Pi" erinnert, folgen lässt, sondern auch womit Ayub und Wolff das Publikum mit ihren nächsten Filmen überraschen werden.

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