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  • AutorenbildWalter Gasperi

Lubo

Rund 600 Kinder wurden in der Schweiz zwischen 1926 und 1972 durch das "Hilfswerk für die Kinder der Landstraße" jenischen Eltern entrissen und in Heimen aufgezogen. Giorgio Diritti erinnert mit der fiktiven Geschichte Lubo Mosers, der sich 1939 auf die Suche nach seinen geraubten Kindern machte, an dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte. - Großartig in der Titelrolle: Franz Rogowski.


1926 wurde von Alfred Siegfried, der zwei Jahre zuvor als Lehrer wegen sexuellen Missbrauchs eines Schülers verurteilt und aus dem Schuldienst entlassen worden war, im Rahmen der Stiftung Pro Iuventute die rassenhygienische Aktion "Hilfswerk für die Kinder der Landstraße" gegründet. Ziel war die Vagantität - das nicht sesshafte Leben – des Fahrenden Volkes, vor allem der Jenischen zu bekämpfen, indem ihre Familienverbände auseinandergerissen wurden.


So wurden Kinder teils direkt nach der Geburt der Mutter weggenommen, teils wurde unter fadenscheinigen Gründen den Eltern das Sorgerecht entzogen, teils wurden sie auch entführt. Untergebracht wurden sie in Heimen, von denen sie dann auch an Familien weitergegeben wurden, in denen sie als Arbeitskraft ausgebeutet wurden. Teilweise wurden sie aber auch in psychiatrische Anstalten und in Gefängnisse verlegt.


Erst 1972 wurde dieses himmelschreiende Unrecht durch einen Bericht in der Zeitschrift "Der Schweizerische Botschafter" publik gemacht. Noch bestehende Vormundschaften wurden aufgelöst und der Bund zahlte zwischen 2.000 und 7.000 Schweizer Franken pro Person als finanzielle Entschädigung.


Giorgio Diritti greift in seiner freien Verfilmung des 2004 erschienenen Roman "Il seminatore" ("Der Sämann") des italienischen Schriftstellers Mario Cavatore die fiktive Geschichte des jenischen Musikers und Straßenkünstlers Lubo Moser (Franz Rogowski) heraus.


Der Italiener, der zuletzt in "Volevo Naschondermi – Hidden Away" (2020) das Leben des italienischen Künstlers Antonio Ligabue (1969 – 1965) nachzeichnete, lässt seinen Film 1939 mit einer Vorführung der Familie Lubos einsetzen. Begeisterung lösen sie in einem Dorf in Graubünden aus, wenn Lubo im Bärenkostüm von seinem Sohn über den Dorfplatz geführt wird, dort tanzt, dann stirbt und dem Pelz wie ein Schmetterling dem Kokon Lubo selbst im Frauenkostüm entsteigt.


Dieser heiteren Szene, mit der Diritti an die beglückende Rolle der Jenischen als Unterhalter des einheimischen Volkes erinnert, folgt aber sogleich eine Polizeikontrolle, bei der Lubo angesichts der drohenden Gefahr eines Krieges mit Deutschland zum Militärdienst eingezogen wird. Während er seinen Dienst an der Grenze verrichtet, wird er von einem Verwandten informiert, dass seine drei Kinder verschleppt wurden und seine Ehefrau beim Versuch die Kinder zu schützen so unglücklich fiel, dass sie verstarb.


Rasch wächst im erschütterten Lubo der Wunsch zu desertieren und sich auf die Suche nach seinen Kindern zu machen. Als er Bekanntschaft mit dem österreichischen Juden Bruno Reiter macht, sieht er die Gelegenheit dazu gekommen: Er tötet den Mann, der als Schmuggler arbeitete, nimmt dessen Identität an und entdeckt rasch, dass der Ermordete auch über ein großes Vermögen verfügt, da er Wertsachen für österreichische Juden in die Schweiz schmuggelte.


Als Bruno Reiter mischt sich Lubo so unter die vornehme Schweizer Gesellschaft, um nach Spuren für den Verbleib seiner Kinder zu suchen. Eindrücklich vermittelt eine Szene, in der er in der Zentrale von Pro Iuventute heimlich die zahllosen Karteikarten durchforstet, wie viele Kinder von diesen Verschleppungen betroffen waren, während sein Besuch in einem Kinderheim und auf einem Bauernhof einen konkreten Einblick in das bedrückende Schicksal dieser Kinder bietet.


Gleichzeitig verführt Lubo aber auch Frauen aus der Oberschicht, um so Rache zu üben, indem er – entsprechend dem Titel des Romans "Der Sämann" - jenische Kinder in die Welt setzt. Dieser Aspekt wird aber so bruchstückhaft behandelt, dass er einerseits in der Luft hängen bleibt, andererseits aber doch dazu führt, dass "Lubo" zerfasert und das zentrale Thema aus den Augen verliert.


Mit einem Schnitt springt Diritti dann abrupt von 1939 ins Jahr 1951 und von der Deutschschweiz ins Tessin, wo Lubo sich ernsthaft verliebt und ein neues Leben beginnen will, ehe ein drittes – nochmals 12 Jahre später spielendes - Kapitel den fast dreistündigen Film beschließt.


So wichtig auch die Aufarbeitung des Themas ist, das zuletzt auch im Dokumentarfilm "Ruäch – Reise ins jenische Europa" angeschnitten wurde, so zeigt "Lubo" auf der anderen Seite doch auch wieder, dass Diritti kein Neuerer des Kinos ist. Sorgfältig ausgestattet und gefilmt ist dieser historische Film zwar, doch in seiner geradlinigen und überraschungsarmen Erzählweise wirkt er eben auch ziemlich altmodisch und verstaubt.


Geradezu schulbuchmäßig in dunkle Farben getaucht sind die Szenen beim Militär und der Mord, in helles Licht dagegen vor allem die Passagen im Tessin. Doch wirkliches Leben haucht "Lubo" einzig Hauptdarsteller Franz Rogowski ein.


Ganz selbstverständlich wechselt der 38-jährige Deutsche, der vor allem mit Christian Petzolds Filmen "Transit" (2018) und "Undine" (2020) den Durchbruch schaffte und inzwischen als internationaler Star in Ira Sachs "Passages"(2023) ebenso eine Hauptrolle spielte wie in Giacomo Abbruzzeses "Disco Boy" (2023), zwischen Schweizerdeutsch, Jenisch und Italienisch. Eindrücklich vermittelt er die tiefe Trauer Lubos über den Verlust seiner Familie und seine Sehnsucht nach seinen Kindern, besticht aber auch nach dem Identitätswechsel mit zunächst etwas unsicherem, dann aber zunehmend souveränerem Auftreten in der Gesellschaft und erweckt am Ende als gebrochener Mann Mitleid.


Doch auch Rogowski kann nicht verhindern, dass sich Längen einstellen. Denn neben der behäbigen und gleichförmigen Erzählweise schwächt auch die fehlende Stringenz und Fokussierung die Wirkung von "Lubo". Erst am Ende fährt Diritti große emotionale Geschütze auf, wenn er einen Kommissar einerseits Aufzeichnungen Lubos über das Schicksal anderer Kinder und andererseits die behördlichen Berichte über den Verbleib von Lubos eigenen Kindern lesen lässt.


Aber auch mit dem Schicksal Lubos und seiner Beziehung zu einem neuen Sohn und dem Sohn seiner Geliebten entwickelt dieses Drama im Finale zwar plakativ, aber wirkungsvoll eine emotionale Kraft, die ihm zuvor über weite Strecken gefehlt hat.

 

 

Lubo Italien / Schweiz 2023 Regie: Giorgio Diritti mit: Franz Rogowski, Christophe Sermet, Valentina Bellè, Noémi Besedes, Cecilia Steiner, Joel Basman, Werner Biermeier, Philippe Graber, Christoph Gaugler Länge: 175 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.



Trailer zu "Lubo"



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