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  • AutorenbildWalter Gasperi

73. Berlinale: Goldener Bär für "Sur l´Adamant" – Ein Resümee

Aktualisiert: 27. Feb. 2023


Mit der Verleihung des Goldenen Bären an Nicolas Philiberts Dokumentarfilm "Sur l´Adamant" und zahlreicher weiterer Preise ging die heurige Berlinale zu Ende: Ein durchschnittlicher Jahrgang ohne große Enttäuschungen, aber auch ohne wirklich überragende Filme.


Auf der Liste für den Hauptpreis der heurigen Berlinale hatte wohl kaum jemand Nicolas Philibert, der vor 20 Jahren mit dem Schulfilm "Être et avoir" seinen größten Erfolg gefeiert hatte. Gut möglich ist freilich, dass die Jury sich für "Sur l´Adamant" nicht zuletzt aufgrund des Themas entschied: Eine schwimmende Tagesklinik inmitten von Paris, in der psychisch kranke Menschen betreut werden, ist doch ein Stoff mit klar humanistischem Akzent und psychische Krankheiten und ihr Umgang damit sind virulente Themen.


Zum großen Erfolg wurde die Preisverleihung aber auch für das deutsche Kino mit dem Großen Preis der Jury für Christian Petzolds leichtfüßigen Beziehungsfilm "Roter Himmel", dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch für Angela Schanelecs sperrige Ödipus-Variante "Music" sowie dem Preis für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle für Thea Ehre in Christoph Hochhäuslers romantischem Thriller "Bis ans Ende der Nacht".


Naheliegend war der Preis für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle aufgrund der Gender-Thematik für Sofia Otero für ihre Verkörperung eines seine sexuelle Identität suchenden Kindes im spanischen Beitrag "20.000 especies de abejas". Otero ist damit mit ihren acht Jahren laut Berlinale die jüngste Preisträgerin in der Geschichte des Festivals.


In Ordnung gehen auch der Regiepreis für Philippe Garrel für seine stimmige Familiengeschichte "Le grand chariot" sowie der Silberne Bär für eine herausragende künstlerische Leistung für Hélène Louvarts Kameraarbeit für Giacomo Abbruzzeses suggestiven Fremdenlegionärsfilm "Disco Boy". Für den Preis der Jury hätten sich allerdings auch andere Filme als Joao Canijos "Bad Living", in dem sich fünf Frauen in einem Hotel in endlosen Auseinandersetzungen zerfleischen, angeboten.


Denn übergangen wurden von der von Kristen Stewart geleiteten offiziellen Jury Lila Avilés starker Familienfilm "Totem", der dafür immerhin mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde, sowie Zhang Lus "The Shadowless Tower" und Celine Songs "Past Lives", die beide leer ausgingen. Der Preis der FIPRESCI-Jury wurde im Wettbewerb Rolf de Heers "The Survival of Kindness" zugesprochen, in der Reihe Encounters Bas Devos´ "Here", der auch von der offiziellen Jury in dieser Sparte als bester Film ausgezeichnet wurde.


Insgesamt war der Wettbewerb durchaus solide, bot viele sehenswerte Filme, ließ aber doch den wirklich großen Film vermissen. Wurde der Italiener Carlo Chatrian als künstlerischer Leiter 2019/2020 nach dem Abgang von dem speziell von den deutschen Medien vielfach scharf kritisierten Dieter Kosslick fast schon wie ein Messias begrüßt, muss man nach seiner nach zwei Corona-Jahren zweiten richtigen Berlinale doch feststellen, dass er - zumindest bislang - keine entscheidende Veränderung herbeiführen konnte: Herr Chatrian kocht eben auch nur mit Wasser.


Zwar führte er mit der Reihe Encounters einen zweiten Wettbewerb ein, der innovativen Filmen vorbehalten sein soll, doch fragt sich schon, ob diese Trennung noch gilt. Denn einerseits lief der neue Film von Hong Sang-soo, der mehrfach im Wettbewerb vertreten war, in den Encounters, andererseits lief der eine Teil von Joao Canijos Doppel-Film "Bad Living" / "Living Bad" im Wettbewerb, der andere in den Encounters. Überhaupt scheinen die Grenzen zwischen den zahlreichen Sektionen zu verfließen: Überall kann alles laufen.


Wie Locarno kann scheinbar auch die Berlinale nur dann für große, medial viel beachtete Highlights sorgen, wenn sie einem renommierten Starregisseur wie Steven Spielberg einen Ehrenbären verleiht. Große internationale Starregisseure glänzen im Wettbewerb aber weitgehend durch Abwesenheit. So solide das Programm heuer somit auch war, von Cannes und Venedig, mit denen die Berlinale gerne in einem Atemzug genannt werden, hat sich das größte deutsche Filmfestival nochmals ein Stück mehr entfernt und wird bald besser in einem Atemzug mit Locarno genannt.


Ein weiteres Problemfeld hat sich heuer mit den dezentral über die ganze Hauptstadt verteilten Spielstätten eingestellt. War in den letzten 20 Jahren der Potsdamer Platz mit Berlinale Palast, CinemaXX- und Cinestar-Kinos das klare Festivalzentrum, so hat sich nach Schließung der Cinestar-Kinos der Filmmarkt das CinemaXX tagsüber gesichert: Geld regiert eben die Welt – und das Festival musste sich nach anderen Spielstätten umschauen.


Zu den dezentralen Spielstätten kam auch noch erschwerend dazu, dass viele Pressevorführungen am Vormittag und am Abend parallel angeboten wurden, das Angebot an Presse- und öffentlichen Vorstellungen am Nachmittag aber nach subjektivem Gefühl weniger attraktiv war. – Das kann man aber freilich auch von einer anderen Seite sehen: Statt mit fünf Filmen am Tag gab man sich mit drei zufrieden, sodass die Festivalwoche recht entspannt und für einmal ohne Hektik verlief.



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