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  • AutorenbildWalter Gasperi

73. Berlinale: Familiengeschichten

Aktualisiert: 26. Feb. 2023


Aus einer Geburtstagsfeier für einen todkranken Vater macht die Mexikanerin Lila Avilés in "Totem" einen ungemein konzentrierten Film über die Schönheit des Lebens und die Schwierigkeit des Abschiednehmens. Der Atem der Nouvelle Vague, speziell der Filme Éric Rohmers weht dagegen durch Philippe Garrels "Le grand chariot".


Wenn Lila Avilés ihren zweiten Spielfilm "Totem" in einer öffentlichen Toilette beginnen lässt, stimmt das schon auf die Nähe und Enge ein, die den ganzen Film kennzeichnet. Keine Totalen wird es in diesem Film geben, sondern nahe Einstellungen werden dominieren und das enge 4:3-Format wird diese Fokussierung noch verstärken.


Scherzen die siebenjährige Sol und ihre Mutter in der Toilette noch, so kommt mit der Fahrt zum Haus des Großvaters und dem Gedanken an den nahen Tod des erst etwa 35-jährigen Vaters schon ein ernster Ton ins Spiel. Noch soll aber sein Geburtstag gefeiert werden, von dem alle gleichzeitig wissen, dass es wohl sein letzter sein wird.


Avilés beschränkt sich räumlich ganz auf das Haus und den Garten und zeitlich auf den Nachmittag der Vorbereitungen und den Abend der Feier. Große Dichte entwickelt Totem durch diese Einheit von Ort und Zeit. Verfolgt man zuerst aus der Perspektive Sols die Arbeiten von zwei Tanten, der Haushälterin und Pflegerin des Vaters, aber auch eine jüngere Cousine Sols sowie den Großvater, der nach einer Kehlkopfoperation nur mittels eines Stimmgenerators kommunizieren kann, so wird beim Fest diese Kinderperspektive aufgegeben.


Bruch entsteht dadurch aber keiner, sondern wunderbar fließend erkundet Avilés, die "Totem" ihrer Tochter gewidmet hat, diesen Mikrokosmus. Bald blickt sie auf weitere Verwandte und Freunde, dann auch auf einen Lehrer des Vaters, lässt gratulieren, Geschenke überreichen, singen und tanzen, bis am Ende doch wieder der Blick von Sol steht.


Unsichtbar bleibt lange der Vater, der sich ausruhen muss. Doch wenn er dann ins Bild kommt, wenn die Pflegerin dem abgemagerten Mann beim Aufstehen helfen und ihn beim Gehen stützen muss, dann spürt man, wie schlecht es ihm geht und wie nah sein Tod ist.


Beiläufig wird auch die prekäre finanzielle Situation sichtbar und immer wieder werden auch indigene Riten ins Spiel gebracht, die offensichtlich fortleben. Große Fülle und Dichte gewinnt so dieses Kammerspiel, das in der Vielzahl der Figuren und im gleitenden Wechsel zwischen diesen an Ensemblefilme wie Robert Altmans "Eine Hochzeit" erinnert. Intensiv werden so gerade angesichts des unvermeidlichen Todes die Schönheit und der Wert des Lebens gefeiert und gleichzeitig erzählt Avilés mit ihrer Protagonistin Sol auch davon, wie schwer es gerade für ein Kind ist mit dem Tod eines nahen Angehörigen fertig zu werden. Dennoch steht am Ende ein zwar trauriger, aber auch entschlossener Blick in die Kamera.


Ein Familienfilm in einem anderen Sinne ist Philippe Garrels "Le grand chariot" dadurch, dass einerseits die drei Kinder des Regisseurs Hauptrollen spielen, andererseits Garrel mit einem fahrenden Puppentheater als zentralem Schauplatz auch seinem Vater ein Denkmal setzt, der Puppenspieler war. Liebevoll zeichnet der 75-jährige Franzose ein Bild dieser aussterbenden Kunstform, stellt den anachronistischen Stücken um Prinzen und Prinzessinnen, beiläufig auch aktuelle politische Proteste der Tochter des Theaterleiters oder das einstige Aufbegehren der Oma gegen ihre konservative Mutter gegenüber.


Doch nicht nur über dieses Puppentheater wird beiläufig auch vom Wandel der Rollen- und Geschlechterbilder erzählt, sondern auch über den Beziehungsreigen, der sich auf der Handlungsebene entwickelt. Den Happy Ends mit lebenslangen Beziehungen in den Stücken steht das Fluide der heutigen Realität gegenüber, wenn ein Mitarbeiter des Theaters, seine Freundin, die eben ein Kind geboren hat, verlässt und eine neue Beziehung beginnt, andererseits der Sohn des Theaterdirektors sich in die Verlassene verliebt.


Nicht zuletzt erzählt Garrel aber auch vom häufigen Widerspruch zwischen Familientradition und eigenem Lebensweg. Denn während es für die ältere Tochter nichts außer dem Puppentheater gibt, hat sich der Sohn vor allem dem Vater zuliebe in diesen Beruf gefügt, möchte aber viel lieber am Theater als Schauspieler arbeiten.


Was in der Beschreibung vielleicht überladen klingt, das kommt in diesem Film, durch den der Atem der frühen Nouvelle Vague und vor allem der Filme Éric Rohmers weht, ganz leicht herüber. Nichts wird besonders betont oder dramatisiert, sondern rund und fließend erzählt Garrel, der auch mit der Empathie für seine Charaktere, deren Sorgen und Sehnsüchte er immer ernst nimmt, für ein beglückendes Filmerlebnis sorgt.



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