Spätestens seit seinem Berlinale-Sieger "Bad Luck Banging or Loony Porn" (2021) gilt Radu Jude als einer der spannendsten Regisseure der Gegenwart. Den Kinostart von "Do Not Expect Too Much from the End of the World", der 2023 in Locarno mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, nehmen Filmpodium Zürich, Stadtkino Basel und Kino Rex Bern zum Anlass für eine Retrospektive des Werks des 46-jährigen Rumänen.
Nach einem Studium an der Medienuniversität Bukarest arbeitete der am 7. April 1977 in Bukarest geborene Radu Jude als Regieassistent. Einerseits wurde er dabei mit seiner Mitarbeit an Radu Munteans "Furia" (2002) und Cristi Puius "Der Tod des Herrn Lazarescu" (2005) in der Neuen Rumänischen Welle filmisch sozialisiert, andererseits lernte er mit Costa-Gavras "Der Stellvertreter" (2002) auch das westliche Polit-Kino kennen. Gut möglich ist, dass mit diesen weit auseinanderliegenden Polen die Basis geschaffen wurde für Judes Lust an wilden filmischen Experimenten.
In der Tradition des rumänischen Kinos der 2000er Jahre stand nach mehreren, teils vielfach preisgekrönten Kurzfilmen wie "Alexandra" (2006) und "The Tube with a Hat" (2006) noch sein Langfilmdebüt "The Happiest Girl in the World" (2009). Annähernd in Echtzeit erzählt Jude darin von einem Teenager, der bei einem Preisausschreiben ein Auto gewonnen hat. Zur Entgegennahme des Preises reist das Mädchen mit seiner Familie nach Bukarest, wo die Gewinnerin als Gegenleistung noch in einem Werbespot für eine Limonade mitwirken muss.
In der quasidokumentarischen Schilderung dieser Dreharbeiten bietet Jude dabei nicht nur Einblicke in die familiären Strukturen, sondern dekonstruiert auch bissig den Dreh des Werbefilms.
Lief dieses Debüt 2009 noch im Forum der Berlinale, so wurde sechs Jahre später "Aferim!" (2015) in den Wettbewerb eingeladen. Von der Gegenwart wendete sich Jude hier ab und erzählte in diesem im frühen 19. Jahrhundert spielenden "Balkan-Western" im Stil von Don Quichotte von der Suche eines Hauptmanns und seines Sohns nach einem entflohenen Roma-Sklaven. Die Begegnungen, die das Duo in diesem in bestechendem Schwarzweiß gefilmten und geradlinig erzählten Film auf seiner Reise macht, nützte Jude dabei, um Vorurteile und Rassismus gegenüber den Roma und Sinti aufzudecken.
Auf den Silbernen Bären für die Beste Regie folgte schon ein Jahr später in Locarno für "Inimi cicatrizate – Scarred Hearts" (2016) der Spezialpreis der Jury. Im Gegensatz zu dem in der weiten Landschaft der Walachei spielenden "Aferim!" konzentriert sich dieses 1937 spielende Drama, das an Thomas Manns "Der Zauberberg" einnert, ganz auf ein Sanatorium am Schwarzen Meer, in dem ein 20-Jähriger, der an Knochentuberkulose leidet, behandelt werden soll.
In distanzierten, langen statischen Einstellungen, die mit der Unbeweglichkeit der Patienten korrespondieren, versetzt der im engen 4:3-Format gedrehte Film in diese abgeschlossene Welt, in der nur am Rande Faschismus und Nationalsozialismus angesprochen werden. Langsam, aber quälend intensiv werden die wachsenden Schmerzen und der zunehmende Zerfall des Protagonisten nachgezeichnet.
Im Gegensatz zum historischen Blick in "Aferim!" und "Scarred Hearts" verknüpfte Jude zwei Jahre später in "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" (2018), nicht nur rumänische Geschichte und Gegenwart, sondern experimentierte auch mit filmischen Erzählweisen. Ausgehend vom Versuch einer Theaterregisseurin mit einer Performance die Beteiligung der Rumänen am Holocaust nachzustellen, entwickelt sich einerseits eine vielschichtige Reflexion über nationale Geschichtsbilder, andererseits wird mit bissigem Witz der ungebrochene Antisemitismus aufgedeckt.
Jude beschränkt sich dabei aber nicht auf die fiktive Erzählung, sondern baut auch immer wieder Archivmaterial von Filmen über Fotos bis zu Textpassagen ein, die eindrücklich daran erinnern, dass die rumänische Armee unter General Ion Antonescu nach der Einnahme Odessas 25.000 Juden und zwischen 1941 und 1944 insgesamt rund 300.000 Juden ermordete.
Auf die Zeit des Kommunismus fokussierte der Rumäne dagegen in "Uppercase Print" (2020), in dem er nach einem Theaterstück und als Theaterinszenierung den Fall eines Schülers nachstellte, der wegen seines auf Hausfassaden geschriebenen Rufs nach Demokratie und Freiheit 1981 ins Räderwerk der rumänischen Geheimpolizei Securitate geriet.
Die Szenen auf einer kahlen Bühne, in denen Schauspieler:innen die Verhöraussagen der Beteiligten vom Schüler über dessen Eltern und Freunde bis zu den Mitarbeitern der Securitate in statischen, zwischen Halbtotaler und Großaufnahme wechselnden Einstellungen frontal in die Kamera rezitieren, werden dabei von historischen, mal schwarzweißen, mal farbigen Fernsehbildern kontrastiert, in denen der Staat und Diktator Nicolae Ceaușescu gefeiert werden.
Eindrücklich macht diese Kontrastierung die Kluft zwischen öffentlicher Präsentation des Staates und realem Leben bewusst. Das Volk einlullende Unterhaltung von harmlosen erotischen Komödien über eine Sendung zur Hühnerzucht und einen Opern-Mitschnitt bis zu Schlagermusik geht hier Hand in Hand mit Propagierung von Vaterlandsliebe, Feier des Militärs und des Conducators Ceausescu.
Gestützt wird die Botschaft freilich auch durch die formal-inhaltlichen Gegensätze, wenn den Individuen in den musiklosen Verhörszenen die Massen in den immer mit Musik unterlegten TV-Sendungen und die Statik und Emotionslosigkeit der ersteren der Bewegtheit und Emotionalität der letzteren gegenüberstehen.
Zunehmend weiter trieb Jude nun das Spiel mit Erzählweisen und filmischem Material. So ist ein privater Pornofilm, den eine Lehrerin und ihren Mann beim Sex zeigt, Ausgangspunkt des Berlinale-Siegerfilms "Bad Luck Banging or Loony Porn" (2021). Die Veröffentlichung dieses Sex-Videos führt zu Protesten von Schüler:inneneltern, die in einen Elternabend münden.
Vermittelt Jude im ersten Teil mit langen Schwenks vom Weg der Lehrerin von ihrer Wohnung zur Schule ein quasidokumentarisches Stimmungsbild des heutigen Bukarest, so folgt mit einem abrupten Schnitt ein essayartiger Abschnitt. In diesem werden in äußerst dichter Folge mit Textinserts, Archivmaterial und inszenierten Szenen lexikonartig zahllose Begriffe von Geschichte, Krieg, Ceausescu, Haus des Volkes, Rumänisch-orthodoxe Kirche und Jesus bis zu Liebe, Vergewaltigung, Blow-Job, Fotze, Pornographie und Zen kommentiert.
Erst im letzten Abschnitt kehrt "Bad Luck Banging or Loony Porn" wieder zur Lehrerin zurück, die sich nun beim Elternabend rechtfertigen muss. Quasi in Echtzeit filmt Jude diesen heftigen Disput, bei dem bald nicht nur das Sex-Video zur Diskussion steht, sondern mit einem Pfarrer auch die Kirche ins Spiel kommt und eine aggressive Mutter die allgegenwärtige Korruption kritisiert.
Noch wilder und atemloser präsentiert sich Judes jüngster Streich "Do Not Expect Too Much from the End of the World" (2023), der in Locarno mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Das Casting einer unterbezahlten und überlasteten Bukarester Produktionsassistentin für ein Video eines österreichischen Konzerns über Unfallverhütung am Arbeitsplatz setzt er nicht nur in Bezug zu einem rumänischen Spielfilm von 1981, sondern lässt auch immer wieder die Protagonistin als glatzköpfige, männliche Kunstfigur verkleidet, in Selfie-Videos in vulgärer Sprache die – auch rassistische – Stimmung des rumänischen Volkes zum Ausdruck bringen.
Zu diesen drei Ebenen kommen aber auch Formatwechsel zwischen 4:3 und Breitwand, sowie eine Zoom-Konferenz mit den westlichen Produzenten, die bei dem "Sicherheitsfilm" weniger an Realität interessiert sind, sondern Emotionen mittels Großaufnahmen wollen, oder eine Begegnung mit dem deutschen Trashfilm-Regisseur Uwe Boll. Auf sprachlicher Ebene sind wiederum eine Fülle an Zitaten von Alexander Kluge bis Karl Marx eingefügt, wird auf den Ukraine-Krieg und den Regierungsantritt von König Charles Bezug genommen, aber auch an die Nazi-Vergangenheit Österreichs, Kurt Waldheims Präsidentschaft und Thomas Bernhards "Heldenplatz" erinnert.
Förmlich erschlagen wird man so von diesem grimmigen Rundumschlag gegen die rumänische Gesellschaft und die Auswüchse eines hemmungslosen Kapitalismus, aber andererseits findet man im aktuellen Weltkino auch nichts Vergleichbares zu dem entfesselten und an Gedanken und filmischen Experimenten überreichen Kino des Radu Jude.
Weitere Informationen und Spielzeiten finden Sie auf der Website des Filmpodium Zürich, des Stadtkino Basel und des Kino Rex Bern.
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