top of page

An einem Stück: Die Plansequenz

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • 15. Juni
  • 5 Min. Lesezeit
"Russian Ark" (2002): eine 90-minütige Steadicam-Fahrt durch die Sankt Petersburger Eremitage
"Russian Ark" (2002): eine 90-minütige Steadicam-Fahrt durch die Sankt Petersburger Eremitage

Meistens sind Einstellungen in Spielfilmen nur wenige Sekunden lang, doch daneben gab und gibt es auch Regisseur:innen, die vorzugsweise in langen ungeschnittenen Einstellungen – sogenannten Plansequenzen – erzählten und erzählen. Das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt/Main widmet diesem laut Pressetext "virtuosesten Stil- und Erzählmittel des Films" unter dem Titel "Entfesselte Bilder" bis 1. Februar 2026 eine Ausstellung.


Unter einer Einstellung versteht man im Film ein ungeschnittenes Stück Film. Meist ist dies nur wenige Sekunden lang und von 1980 bis 2003 verringerte sich die durchschnittliche Einstellungslänge von zehn auf sechs Sekunden. Schnell geschnitten werden vor allem Actionfilme, in denen die Einstellungslänge vielfach nur wenig über zwei Sekunden liegt.


Gleichzeitig gibt es aber schon seit der Stummfilmzeit Bemühungen ein Geschehen in einer langen ungeschnittenen Einstellung zu filmen. Während das sowjetische Revolutionskino eines Sergej Eisenstein und Dziga Vertov das Publikum mit stakkatoartiger Montage und dem Aufeinanderprallen von Bildern zu packen versuchte, entfesselten in Deutschland der Kameramann Karl Freund und sein Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau die Kamera.


So konnte in der Eröffnungssequenz von "Der letzte Mann" (1924) die auf ein Fahrrad montierte Kamera im Aufzug durch verschiedene Stockwerke und anschließend durch die Lobby des Hotels bis zu dessen Drehtür fahren.


Mit Aufkommen des Tonfilms und dafür nötigen schwereren Kameras verlor der Film aber diese Bewegungsfreiheit. Doch Plansequenzen sind nicht an solche spektakulären Kamerafahrten gebunden, sondern sind auch mit weitgehend unbewegter Kamera möglich. Ab welcher Länge freilich eine Einstellung als Plansequenz gilt, ist völlig offen.


Der französische Filmkritiker und -theoretiker André Bazin, der den Begriff der Plansequenz definierte, entdeckte deren Qualitäten vor allem in den Filmen von Orson Welles, im Speziellen in "Citizen Kane" (1941), sowie in William Wylers "The Little Foxes" ("Die kleinen Füchse", 1941) und "The Best Years of Our Life" ("Die besten Jahre unseres Lebens", 1946).


Entscheidend unterstützt von ihrem Kameramann Greg Toland inszenierten Welles und Wyler hier mittels großer Tiefenschärfe in langen Einstellungen, in denen im Vorder-, Mittel- und Hintergrund erzählt werden konnte. Mit Plansequenzen mittels Schärfentiefe arbeitete aber auch schon zuvor Jean Renoir bei seinem Antikriegsfilm "La grande illusion" ("Die große Illusion", 1937) und der Gesellschaftssatire "La règle du jeu" ("Die Spielregel", 1939).


Bazin schrieb der Plansequenz eine größere Authentizität und geringere Zuschauerlenkung zu, da sich die Zuschauer:innen hier selbst im Bild umsehen und orientieren müssten, ihr Blick nicht durch eine Montage gelenkt werde.


Begrenzt war freilich die Einstellungslänge in dieser Zeit durch die Länge der Filmrollen von maximal etwa zehn Minuten. Alfred Hitchcock versuchte in seinem Kammerspiel "Rope" ("Cocktail für eine Leiche", 1948) dieses Problem zu vertuschen, indem er jeweils am Ende der Filmrolle die Kamera auf einen dunklen Anzug oder Kasten richtete und bei der nächsten Filmrolle wieder an der gleichen Stelle ansetzte.


So entstand zwar der Eindruck einer den Film umspannenden 80-minütigen Einstellung, doch dieses Erzählen in Echtzeit und ohne Perspektivenwechsel war dem Spannungsaufbau eher abträglich als förderlich.


Dieser fließenden, aber nicht spektakulären Kameraarbeit bei "Rope" steht die dreieinhalbminütige virtuose Plansequenz am Beginn von Orson Welles´ "Touch of Evil" ("Im Zeichen des Bösen", 1956) gegenüber. Mit komplexen und genau kontrollierten Kamerabewegungen folgen Welles und sein Kameramann Russell Metty zu treibender Musik, beginnend mit der Fixierung einer Autobombe, einem frischvermählten Paar durch die Straßen einer mexikanischer Grenzstadt um am Ende wieder zum Auto mit der Bombe zurückzukehren, das sich entfernt und im visuellen Off explodiert.


Wie hier sind Plansequenzen vielfach darauf angelegt, Virtuosität zu demonstrieren. Das gilt für die Kamerafahrt entlang der auf ihre Evakuierung aus Dünkirchen wartenden britischen Truppen in Joe Wrights "Attonement" ("Abbitte", 2007) ebenso wie für die spektakuläre Kamerafahrt durch das New Yorker Fast Food-Restaurant in Alonso Ruizpalacios´ "La Cocina" (2024).


Gleichzeitig gibt es andererseits auch Plansequenzen, die eher unscheinbar sind, weil die Kamera keine spektakulären Bewegungen vollführt. Beispiele hierfür sind die fünfminütige Einstellung am Beginn von Sidney Lumets "Twelve Angry Men" ("Die zwölf Geschworenen", 1957), bei der sich während des Vorspanns die Geschworenen im Besprechungsraum versammeln, oder die achtminütige Plansequenz auf einer Polizeiwache in Jean-Pierre Melvilles Gangsterfilm "Le doulos" ("Der Teufel mit der weißen Weste", 1962).


Im Gegensatz zur Montage, die seit den Anfängen der Filmgeschichte durch die Digitalisierung zwar grundlegend erleichtert wurde, deren Möglichkeiten im Grunde aber gleich blieben, ist die Entwicklung der Plansequenz stark mit der technischen Entwicklung verknüpft.


Größere Mobilität brachten so in den 1960er Jahren kleinere Kameras und noch mehr Bewegungsfreiheit brachte die Mitte der 1970er Jahre von Garrett Brown erfundene Steadycam. Mit ihr konnte Brown selbst in Stanley Kubricks "Shining" (1980) die Kamera durch das Overlook Hotel rasen lassen und in Martin Scorseses "GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia" (1990) konnte Kameramann Michael Ballhaus in einer ungeschnittenen Einstellung drei Minuten lang durch den New Yorker Nachtclub Copacabana gleiten.


Nochmals erweitert wurden die Möglichkeiten von Plansequenzen durch die Digitalisierung, stellte ab nun im Gegensatz zu den analogen Filmrollen doch nur noch die Speicherkapazität der Festplatten eine Einschränkung dar. Bahnbrechend war hier Alexander Sokurovs "Russian Ark" (2002), in dem sich Kameramann Tilmann Büttner mit der umgeschnallten Steadycam-Kamera in einer ungeschnittenen Einstellung neunzig Minuten durch die Räume der St. Petersburger Eremitage und gleichzeitig durch die russische und sowjetische Geschichte bewegte.


Exakte Planung erfordern freilich solche One-Shot-Filme, muss doch der komplette Film neu gedreht werden, wenn ein Detail nicht passt. Klappte es so bei "Russian Ark" nach drei Fehlversuchen beim vierten Anlauf, so drehten Sebastian Schipper und sein Kameramann Sturla Brandth Grøvlen beim 140-minütigen "Victoria" (2015) drei vollständige Versionen, um dann die letzte zu wählen.


Wie bei diesem zunehmend atemlosen und dramatischen Trip einer Spanierin und vier junger Männer durch eine Berliner Nacht und in den Morgen erzeugt die ununterbrochen sich bewegende und nah geführte Kamera auch im britischen Restaurant-Film "Boiling Point" ("Yes, Chef!", 2021) suggestiven Sog und Unmittelbarkeit.


Auf diese Immersion zielen auch Sam Mendes und sein Kameramann Roger Deakins im Kriegsfilm "1917" (2019) ab, in dem sie zwei britischen Soldaten bei ihrem Auftrag über die Schlachtfelder der Westfront des Ersten Weltkriegs folgen. Um den Eindruck einer durchgängig fließenden Bewegung zu erzeugen und die Intensität zu erhöhen werden die wenigen Schnitte, die es dabei durchaus gibt, ebenso kaschiert wie in Alejandro González Iñárritus "Birdman" (2014).


Gegenpol zu dieser Involvierung der Zuschauer:innen durch die Nähe und die atemlose Bewegung der Kamera stellen die langen und ruhigen Einstellungen von Exponent:innen des sogenannten Slow Cinema wie Andrej Tarkowskij, Theo Angelopoulos oder Bela Tarr dar.


Wenn bei Angelopoulos dabei in "To Vlemma tou Odyssea" ("Der Blick des Odysseus", 1995) in einer Einstellung Gegenwart und Vergangenheit oder bei Tarkowski in "Nostalghia" (1983) die Ruine einer italienischen Kathedrale und ein Holzhaus in russischer Landschaft verschmelzen, dann lassen diese Einstellungen Raum für Meditation.


So vielfältig aber die Spielarten und Einsatzmöglichkeiten der Plansequenz auch sind, so gibt es dennoch Grenzen. Trotz der genannten Beispiele bei Angelopoulos und Tarkowski ist bei einer Plansequenz die Handlung in der Regel doch auf wenige Schauplätze beschränkt und bringen ein Zusammenfallen von Erzählzeit und erzählter Zeit.


Unerlässlich bleibt also in der Regel die Montage, die durch Szenen- und Perspektivenwechsel, Zeit- und Ortssprünge und die Verknüpfung mehrerer paralleler Erzählstränge die Spannung steigern oder für Witz sorgen kann und auch mit Metaphern arbeiten kann, die man sich bei Plansequenzen, die auf eine möglichst wirklichkeitsgetreue Abbildung der Realität abzielen, schwer vorstellen kann.


 

Weitere Informationen zur Ausstellung im Deutschen Filmmuseum Frankfurt sowie einen Podcast zur Plansequenz finden Sie hier.



Eröffnungssequenz von "Touch of Evil" (1958)


Comments


bottom of page