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  • AutorenbildWalter Gasperi

Monster - Die Unschuld

Hirokazu Kore-eda legt in seinem meisterhaften Drama durch Perspektivenwechsel Schicht für Schicht neue Sichtweisen auf seine beiden jugendlichen Protagonisten und ihre Geschichte frei: Ein atemberaubend komplex aufgebauter Film über den vielfach täuschenden ersten Eindruck, die Schwierigkeit zur Wahrheit vorzudringen, aber auch über individuelle Gefühle und gesellschaftlichen Druck.


Fragile Familienkonstellationen und ein feinfühliger Blick auf Kinder in schwierigen Situationen ziehen sich spätestens seit "Nobody Knows" (2004), in dem sich vier von der Mutter verlassene Kinder allein durchschlagen müssen, durch fast alle Filme des 1962 geborenen Hirokazu Kore-eda. Nachdem er "La verité" (2019) und "Broker" (2022) in Frankreich beziehungsweise Südkorea gedreht hatte, kehrte der japanische Meisterregisseur für "Monster – Die Unschuld" wieder in seine Heimat zurück. Gewidmet hat er diesen Film dem im März 2023 verstorbenen Komponisten Ryuichi Sakamoto, der hier erstmals mit Kore-eda zusammenarbeitete.


Wie komplex und ambivalent dieses Drama ist, zeigt sich schon darin, dass auf den ersten Blick der internationale Titel "Monster" und der deutsche Titel "Die Unschuld" gegensätzlich und unvereinbar scheinen, vom Ende des Films aber beide ihre Berechtigung haben. Denn scheint zunächst klar, wer das Monster ist, so ergibt sich durch Perspektivenwechsel zunehmend ein anderes Bild.


Kore-eda lässt seinen 16. Spielfilm mit dem nächtlichen Brand eines Hochhauses einsetzen und legt sogleich mit der Aussage, dass der Lehrer Hori (Eita Nagayama) in der Hostessen-Bar dieses Hauses verkehrt haben soll eine entscheidende Fährte. Denn wie es sich dabei nur um ein Gerücht handelt, das vielleicht auch falsch ist, lässt auch der Film in der Folge die Protagonist:innen mit ihrer eingeschränkten Sicht immer wieder falsche Schlüsse ziehen und auch die Zuschauer:innen müssen ihre Interpretation der Figuren und Ereignisse immer wieder überdenken.


Größte Aufmerksamkeit verlangt so "Monster", beschenkt dafür mit einem Filmereignis, das von Szene zu Szene an Dichte, Komplexität und Spannung gewinnt. So steht zunächst die verwitwete Saori (Sakura Ando) im Zentrum, die aufgrund kleiner Indizien zu vermuten beginnt, dass ihr etwa zehnjähriger Sohn Minato (Soya Kurokawa) in der Schule von einem Lehrer misshandelt und gemobbt wird. Auf ihre Vorsprache reagiert die Direktorin, die selbst aufgrund eines Unglücksfalls in der Familie unter Schock steht, allerdings ziemlich hilflos und auch die formelhaften Entschuldigungen des Kollegiums und des Lehrers verstören Saori mehr als sie zufrieden zu stellen.


Indem Kore-eda konsequent aus der Perspektive Saoris erzählt, weist die Geschichte viele Leerstellen auf und vieles bleibt im Vagen, ehe der Film in der Folge noch zweimal zum Hochhausbrand springt und die Ereignisse nochmals aus der Perspektive des Lehrers und dann aus der Minatos erzählt.


Wie bei einem Puzzle wird durch diese Perspektivenwechsel das Bild sukzessive komplexer, müssen frühere Einschätzungen revidiert und überdacht werden. Großartig erzählt so Kore-eda in der nach Akira Kurosawas Klassiker "Rashomon" benannten Rashomon-Technik von der Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung und der Komplexität der Wahrheit.


Ganz beiläufig kann durch diese Erzählweise auch eine Fülle an Themen angeschnitten werden, ohne dass "Monster" je überladen oder aber die Themen nur notdürftig angerissen wirken würden. Da geht es nämlich sowohl um eine überlastete, alleinerziehende Mutter, die vielleicht zu wenig Zeit für ihr Kind hat, wie um eine familiäre Lüge zwecks Aufrechterhaltung des Familienbilds, als auch ganz zentral darum, wie voreilige Schlüsse und die Unfähigkeit zur offenen Kommunikation zu Konfrontationen führen und Beziehungen zerstören können.


Kore-eda zeigt dabei auch, wie komplex und labil das Schulleben ist. Den vielfach hilflosen Bemühungen der Lehrer:innen stehen so Schüler:innen gegenüber, die kein Erbarmen mit ihren Mitschüler:innen kennen, aber auch die Folgen der Anschuldigungen für den betroffenen Lehrer werden thematisiert, ehe auch noch häusliche Gewalt sowie die Schwierigkeit für ein Kind für seinen Freund gegen die Opposition einer Gruppe entschieden Partei zu ergreifen ins Spiel kommen.


Bewegten sich frühere Filme Kore-edas teilweise auf dem schmalen Grat zwischen Feinfühligkeit und Süßlichkeit, so schlägt der Japaner in diesem Drama, zu dem er erstmals seit seinem Spielfilmdebüt "Maboroshi" (1995) nicht selbst das Drehbuch schrieb, sondern auf ein Skript von Yuji Sakamoto zurückgriff, hier schon am Beginn mit einer dynamischeren und vorwärtsdrängenden Erzählweise einen härteren Ton an. Auch der Perspektivenwechsel sorgt für eine sachlichere und zupackendere Erzählweise, ehe mit der Fokussierung auf Minato im letzten Abschnitt sich wieder mit aller Wucht Kore-edas Empathie für die Jugendlichen breit macht.


Meisterhaft löst Kore-eda in diesem Finale, das auch Erinnerungen an Lukas Dhonts "Close" weckt, nicht nur Ungewissheiten auf, sondern lässt auch gezielt einiges offen und stellt mitreißend dem einengenden und von gesellschaftlichen Normierungen geprägten Schulleben die wildwuchernde Natur eines stillgelegten Eisenbahngeländes gegenüber, in dem die innersten Gefühle ohne jegliche Angst vor Häme und Mobbing befreit ausgelegt werden können und Glück möglich scheint.

 

Monster – Die Unschuld Japan 2023 Regie: Hirokazu Kore-eda mit: Sakura Ando, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Mitsuki Takahata, Akihiro Kakuta, Shidō Nakamura, Yūko Tanaka Länge: 126 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. - Ab 21. März in den deutschen und österreichischen Kinos.



Trailer zu "Monster - Die Unschuld"



 

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