Everybody Loves Touda – Alle lieben Touda
- Walter Gasperi
- 13. Juni
- 3 Min. Lesezeit

Eine alleinerziehende marokkanische Mutter träumt von einer Karriere als Sheikha, als Sängerin, die freimütig von Liebe und Begehren, von weiblicher Selbstbehauptung und Widerstand erzählt. Doch in der patriarchal geprägten Gesellschaft kommt sie mit diesen Liedern nicht an: Nisrin Erradi begeistert mit grandioser Stimme und leidenschaftlichem Spiel, doch dramaturgische Schwächen beeinträchtigen den Gesamteindruck.
Wie Touda (Nisrin Erradi), unterstützt von Musikern, auf einem nächtlichen Feld singt und tanzt, reißt mit. Sukzessive steigert auch die bewegliche Kamera von Virginie Surdej, die hautnah den Bewegungen der jungen Frau folgt, die Stimmung und in Verbindung mit einem zunehmend schnelleren Schnitt und Nahaufnahmen entwickelt sich ein geradezu ekstatischer Rausch.
Gleichzeitig steigert sich aber auch das Gefühl und die Ahnung einer gewalttätigen Eskalation. Was genau passiert, lässt Nabil Ayouch aber im Dunkeln. Touda ist jedenfalls bald auf der Flucht durch den Wald, wo sie schließlich brutal vergewaltigt wird. Aber auch von dieser erschütternden Erfahrung lässt sie sich nicht unterkriegen, sondern hält an ihrem Traum von einer Karriere als Sheikha fest, die in den mündlich überlieferten, Aïta genannten Liedern freimütig von Begehren und Liebe, aber auch von Widerstand gegen das Patriarchat und Emanzipation singen.
Die verstörende Auftaktszene klärt der französisch-marokkanische Regisseur, dem 2000 mit dem Straßenkinderfilm "Ali Zaoua, Prinz der Straße" der Durchbruch gelang, nicht auf, sondern wird sie so stehen lassen. Ayouch, der zusammen mit seiner Frau Maryam Touzani auch das Drehbuch schrieb, wird sich darauf beschränken, seiner Protagonistin zu folgen, deren Vergangenheit aber aussparen.
Während Touzanis eigene Filme "Adam" (2019) und "Das Blau des Kaftans" (2022) aber durch die Genauigkeit und Sorgfalt in der Auslotung der Figuren und ihrer Gefühle beeindrucken, wirkt in "Alle lieben Touda" vieles grob gestrickt. Ayouch weiß ganz offensichtlich, was er an seiner Hauptdarstellerin Nisrin Erradi hat. Ganz auf sie, auf ihr leidenschaftliches Spiel und ihre grandiose Stimme fokussiert der Film.
In den Bars der Kleinstadt, in der sie mit ihrem gehörlosen neunjährigen Sohn Yassine (Joud Chamihy) lebt, will man aber ebenso wenig die Aïta hören wie bei Hochzeiten oder Volksfesten, für die sie engagiert wird. Leichte Popsongs soll sie singen, die für gute Stimmung sorgen und mit denen man in den Bars den Männern das Geld aus der Tasche ziehen kann. Fließend scheinen dabei auch die Übergänge zwischen Gesang und sexuellen Leistungen, für die sich Touda aber nicht hergibt.
Nicht nur um ihre eigene Karriere sorgt sie sich aber, sondern auch um ihren Sohn. Während sie eine Analphabetin ist, soll er trotz seiner Beeinträchtigung eine Bildung erhalten, die ihm mehr Chancen im Leben bietet. Doch in der Kleinstadt gibt es keine passende Schule für den Jungen. So bricht sie selbst nach Casablanca auf, um dort als Sängerin Fuß zu fassen und dann Yassine, den sie bis dahin bei ihren als Bauern auf dem Land lebenden Eltern zurücklässt, nachzuholen.
Die reichlich naiven Vorstellungen vom Sehnsuchtsort Casablanca zerplatzen rasch, wenn Touda in einem schäbigen Hotel Unterkunft bezieht und sie feststellen muss, dass die männliche Kundschaft in der Bar, in der sie auftritt, ebenso wie in ihrer Kleinstadt Unterhaltungsmusik, aber keine kritischen Songs hören will und auf sexuelle Gefälligkeiten aus ist.
Mitreißende Kraft entwickelt "Alle lieben Touda" in den Gesangsszenen und plastisch wird der Widerspruch zwischen Toudas Traum von einer kritischen Sängerin und den Wünschen des männlichen Publikums sichtbar ebenso wie die Degradierung der Frau zum Sexobjekt, doch darüber hinaus entwickelt Ayouch wenig.
Der verheiratete Polizist, mit dem Touda eine Beziehung hat, dient nur dazu, um Toudas Selbstbewusstsein zu demonstrieren, die Präsenz ihres offensichtlich konservativen Bruders beschränkt sich auf einen kurzen Auftritt und auch die Schwierigkeit für den gehörlosen Sohn eine Schule zu finden wird nur angeschnitten. Eine mehr märchenhafte als reale Figur ist schließlich ein alter Musiker, in dem die Sängerin in Casablanca einen väterlichen Freund und Unterstützer findet.
Da mag die Kamera von Virginie Surdej in den Gesangs- und Tanzszenen noch so großen Schwung und mit dem ausführlichen Blick auf Toudas glitzernde Kleider und dem verzierten Gürtel sowie intensiven Farben Sinnlichkeit entwickeln, so kann dies doch nicht über diese Schwächen in Dramaturgie und Defizite in der Zeichnung der Nebenfiguren hinwegtäuschen.
Recht platt bleibt so der antipatriarchale feministische Impetus, aber dank seiner Hauptdarstellerin Nisrin Erradi gelingt es Ayouch dennoch ein starkes Frauenporträt zu zeichnen und Einblick in die hierzulande wohl kaum bekannte marokkanische Kultur der Sheikhas und ihrer Aïta zu bieten.
Everybody Loves Touda – Alle lieben Touda
Marokko / Frankreich / Dänemark / Schweden / Norwegen / Niederlande 2024 Regie: Nabil Ayouch mit: Nisrin Erradi, Joud Chamihy, Jalila Talemsi, El Moustafa Boutankite, Lahcen Razzougui Länge: 102 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Everybody Loves Touda - Alle lieben Touda"
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