Les femmes au balcon - Balconettes
- Walter Gasperi
- vor 12 Minuten
- 3 Min. Lesezeit

Drei Freundinnen beobachten in der Sommerhitze von ihrem Balkon aus einen Nachbarn – doch plötzlich laufen die Dinge aus dem Ruder: Noémie Merlant mischt in ihrem zweiten Spielfilm schrille Komödie und blutigen Horrorfilm, um bissig mit patriarchalen Strukturen und männlicher Übergriffigkeit abzurechnen.
Noémie Merlant hatte als Schauspielerin in Marie-Castille Mention-Schaars IS-Drama "Der Himmel wird warten" (2016) ihre erste große Hauptrolle, ehe sie mit Céline Sciammas "Porträt einer jungen Frau in Flammen" (2019) den internationalen Durchbruch schaffte. In den folgenden Jahren spielte die 1988 geborene Französin unter anderem auch in Jacques Audiards "Les Olympiades" (2021), Todd Fields "Tár" (2022) und die Titelrolle in Audrey Diwans "Emmanuelle" (2024).
Parallel zu ihrer Schauspielkarriere drehte sie aber auch selbst mehrere Kurzfilme und 2021 mit "Mi iubita, mon amour" ihren ersten langen Spielfilm. Mit "Les femmes au balcon – Balconettes" (2024), zu dem Merlant zusammen mit Céline Sciamma auch das Drehbuch schrieb, lässt sie nun einen Zweitling folgen, in dem sie wild die Genres mixt und mit der schrillen Inszenierung auch die Wut der Protagonistinnen auf die filmische Form überträgt.
Von der Ankündigung eines glühend heißen Tages in ganz Frankreich bis zu einem reinigenden und befreienden Gewitter im Finale spannt sich der Bogen dieses Genrehybrids. Unübersehbar mit Alfred Hitchcocks "Rear Window" ("Das Fenster zum Hof", 1954) spielt Merlant, wenn die Kamera von Evgenia Alexandrova in der ersten Einstellung lange über die Fenster eines Marseiller Innenhofs gleitet und die Menschen beobachtet, die in ihren Wohnungen oder auf ihren Balkonen versuchen mit der Hitze zurechtzukommen.
Auf die Stoßrichtung des Films wird eingestimmt, wenn auf einem Balkon eine dunkelhäutige Frau mit blauem Auge liegt. Sie ist offenbar Opfer häuslicher Gewalt. Trotz ihrer Verletzung traktiert sie ihr Mann weiter, fordert sie auf, ihm eine Mahlzeit zu kochen, überschüttet sie mit einem Eimer Wasser, als sie nicht aufsteht. Doch die Frau will diese Gewalt nicht länger ertragen, holt zum Gegenschlag aus und bald spritzt Blut auf die Wand und ein Kruzifix, in dem ein Symbol des Patriarchats und der Unterdrückung der Frau zu sehen ist.
So deftig dieser Auftakt ist, bleibt der ganze Film. Die Frau spielt in der Folge keine Rolle mehr, sondern ins Zentrum rücken die drei Freundinnen Nicole (Sanda Codreanu), Ruby (Souheila Yacoub) und Élise (Noémie Merlant). Während die freizügige Ruby als Camgirl ihren Lebensunterhalt verdient, versucht die schüchterne Nicole über einen Online-Schreibkurs an ihrer Karriere als Schriftstellerin zu arbeiten.
Mit der Beobachtung eines jungen Nachbarn (Lucas Bravo), der sich in seiner Wohnung oft nackt zeigt, hat sie auch schon ein Thema für einen erotischen Roman gefunden, würde aber auch gerne den Mann persönlich kennenlernen. Gelegenheit dazu ergibt sich als ihre Freundin Élise, eine Schauspielerin, die von Dreharbeiten in Paris und ihrem besitzergreifenden Mann nach Marseille geflohen ist, im knallroten Kleid und mit blonder Marilyn Monroe-Perücke auftaucht und beim Einparken mit ihrem knallroten Sportwagen das klapprige Auto des Nachbarn anfährt.
Auf SMS-Nachrichten bezüglich Bezahlung des Schadens folgt eine Einladung für die drei Freundinnen in die Wohnung des Nachbarn, doch nach einem Schnitt kehrt Ruby am nächsten Morgen blutüberströmt in die Wohngemeinschaft zurück.
Was als in kräftigen Farben gehaltene Sommerkomödie beginnt, wandelt sich so zur bewusst trashigen Horrorkomödie, die wild und lustvoll von weiblicher Selbstbehauptung gegenüber männlicher Übergriffigkeit erzählt. Wie am Beginn mit der Beobachtung der Nachbarn dabei mit "Rear Window" gespielt wird, aber an die Stelle der männlichen eine weibliche Perspektive tritt, so scheint sich Merlant auch an den Filmen Pedro Almodóvars, speziell an "Volver" (2006) zu orientieren, wenn die Frauen entschlossen zusammenhalten, um ein Problem zu lösen.
Auch ein Fantasy-Element kommt ins Spiel, wenn Nicole von einem Geist verfolgt wird, denn auch nach ihrem Tod scheinen die Männer sich im Recht zu sehen und ihr Fehlverhalten nicht einzugestehen. Während Nicole von dieser dominanten Männlichkeit schon ganz eingeschüchtert ist, treten Ruby und Élise ihr mit ihrer Freizügigkeit entschlossen entgegen.
Da löst sich schließlich nicht nur Élise aus ihrer toxischen Beziehung, in der der Mann ein Nein nicht akzeptiert und sie vergewaltigt, und entscheidet selbst über ihren Körper, sondern alle Frauen der Stadt scheinen sich aus der Unterdrückung durch die Männer zu befreien.
Sicherlich nicht jedem oder jeder wird dieser schrille Genrehybrid gefallen. Zwischentöne und leise Momente darf man nicht erwarten, aber gerade durch seine Wildheit, durch seine Lust am Schrillen und Überdrehten, sowie durch seine Unbekümmertheit und Direktheit entwickelt "Les femmes au balcon – Balconettes" große Durchschlagskraft. Das ist kein betuliches Kino, sondern eine von feministischem Impetus durchzogene, leidenschaftliche Abrechnung mit den Männern und eine Feier weiblicher Auflehnung und Selbstbehauptung.
Les femmes au balcon - Balconettes
Frankreich 2024
Regie: Noémie Merlant
mit: Souheila Yacoub, Sandra Codreanu, Noémie Merlant, Lucas Bravo, Nadège Beausson-Diagne, Christophe Montenez
Länge: 104 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.b. im Skino Schaan.
Trailer zu "Les femmes au balcon - Balconettes"
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