Als erste Dirigentin eines großen deutschen Orchesters steht Lydia Tár am Höhepunkt ihrer Karriere, doch sukzessive lassen Gerüchte und Vorwürfe ihr Leben aus der Bahn geraten: Ganz auf eine herausragende Cate Blanchett zugeschnitten, entwickelt Todd Field ein faszinierend ambivalentes Charakterporträt und thematisiert gleichzeitig am Beispiel der Branche der klassischen Musik eindrücklich Machtstrukturen und Machtmissbrauch, aber auch die Macht sozialer Medien.
Wie Regisseur Todd Field selbst erklärt, ist "TÁR" Cate Blanchetts Film. Über 158 Minuten folgt Field seiner Protagonistin, bietet Blanchett, die auch als ausführende Produzentin fungiert, eine Bühne, die die zweifache Oscar-Gewinnerin ("Aviator", 2005; "Blue Jasmine", 2014) großartig zu nützen weiß. Nicht verwunderlich ist es so auch, dass alle Buchstaben des Titels groß geschrieben werden: Tár ist eben eine große, selbstbewusste und starke Persönlichkeit, bis dieses Bild doch sukzessive Risse bekommt.
Wenn am Beginn im Vordergrund ein Handy-Chat zu sehen ist, dann weist das schon voraus, auf die Medien, die vor allem gegen Ende eine wichtige Rolle spielen werden. Völlig ungewohnt folgt auf diesen Auftakt schon der Nachspann, der mit den schlichten weißen Titeln auf schwarzem Grund wie eine Ouvertüre Raum lässt, um sich auf den kommenden Film vorzubereiten.
Gleich anschließend folgt aber schon der erste große Auftritt Blanchetts und eine Szene, in der sie nicht nur ihrer Figur Profil verleiht, sondern die sie auch gezielt nützt, um eindrücklich ihre eigene Schauspielkunst zu demonstrieren, ohne dabei freilich zu dick aufzutragen. Lange sieht man sie so in Großaufnahme, wie sie nervös am Rand einer Bühne steht, sich locker macht, die Mundpartie durch Bewegungen entspannt, nochmals an ihrer Kleidung zupft. Offensichtlich steht ein großer Auftritt bevor. Doch nicht ein Konzert folgt, sondern ein Interview vor Publikum, bei dem der Interviewer des The New Yorker Festivals knapp Lydia Társ Karriere zusammenfasst.
Wie in dieser Szene fließen auch im Folgenden immer wieder Realitäten in die fiktive Geschichte ein. Denn da wird nicht nur der Interviewer vom realen Schriftsteller, Essayisten und Kommentator Adam Gopnik gespielt, sondern die fiktive Lydia Tár wird auch unter die wenigen gereiht, die in der Realität den EGOT - also den Gewinn von Emmy, Grammy, Oscar und Tony-Award – geschafft haben. Weitere solche Einsprengsel folgen später, wenn auf die Dirigentin Antonia Brico Bezug genommen wird, Tár als Schülerin Leonard Bernsteins bezeichnet wird oder auch die Karrieren von Herbert von Karajan und Wilhelm Furtwängler kurz thematisiert werden.
Eloquent und überlegen gibt sich Tár, die als erste Frau den Aufstieg zur Dirigentin eines großen deutschen Orchesters – als Vorbild dienten wohl die Berliner Philharmoniker – geschafft hat. Souverän spricht sie über ihre Ablehnung des Genderns, die Bedeutung der Zeit für die Musik, über die Unterordnung der Dirigentin unter die Komposition aber auch über die anstehende Einstudierung von Mahlers 5. Sinfonie als Abschluss des Mahler-Zyklus.
Musik spielt in dieser ersten Hälfte von "TÁR" eher eine untergeordnete Rolle, dafür bekommt man Einblick in den Alltag dieser Dirigentin, die mit ihrer Partnerin - oder Ehefrau? - Sharon (Nina Hoss), die auch die erste Geige in ihrem Orchester spielt und ihre Konzertmeisterin, mit Petra eine etwa sechsjährige Tochter hat. Wenn Tár auf Mobbing Petras in der Schule die Täterin mit ihrem Verhalten konfrontiert und ihr unverhohlen droht, dann spürt man die Entschlossenheit und Härte dieser Frau.
Ahnen kann man, dass sie nur durch eiserne Härte gegenüber sich selbst den Aufstieg geschafft hat. Hart ist sie jetzt aber auch gegenüber einem Studenten, der nicht nur die Musik Bachs ablehnt, da dieser ein Frauenhasser gewesen sei, sondern als People of Color insgesamt Bedenken gegenüber der Musik von weißen Männern früherer Zeiten äußert.
Kein Blatt nimmt sich Tár bei dieser Lehrveranstaltung vor den Mund und macht den Kritiker nieder, wird aber später erkennen müssen, wie leicht dieser heimlich gefilmte Auftritt durch Kürzungen völlig entstellt werden kann.
Zunehmend beginnt das Bild der überlegenen Frau, die alles im Griff hat, zu zerbrechen, als die Medien den Selbstmord einer jungen Musikerin mit ihr in Zusammenhang bringen, bald kommen auch Gerüchte auf, dass sie sich gegenüber anderen Musikerinnen für - sexuelle? - Gefälligkeiten immer wieder erkenntlich erwiesen hat. Durch medialen Druck wird Társ Position immer unsicherer und ihr Verhalten gegenüber einer jungen russischen Cellistin scheint nicht nur die Gerüchte zu bestätigen, sondern belastet auch ihre Beziehung zu Sharon.
Messerscharf durchleuchtet Todd Field die Machtstrukturen und Intrigen im klassischen Musikbetrieb, gleichzeitig kann diese Branche auch für die Mechanismen in anderen Bereichen stehen. So fühlt man sich beim Vorwurf der Freunderlwirtschaft ebenso wie bei Társ wiederholten Antworten "Ich weiß nicht" und "Ich kann mich nicht erinnern" auch an die österreichische Innenpolitik erinnert.
Erscheint die Dirigentin zunächst noch als Sympathieträgerin, so werden zunehmend dunkle Seiten sichtbar und kein Zufall ist wohl, dass nicht nur "art" ein Anagramm von Tár ist, sondern auch "rat". So wird auch später der Titel ihres gerade erscheinenden Buches auf einem Zettel von "Tár on Tár" in "Rat on Rat" diffamierend abgeändert.
Aber auch die Macht der Öffentlichkeit und der Social Media, durch die Gerüchte in Windeseile verbreitet werden, werden präzise aufgedeckt. Field, dem mit seinen beiden ersten Spielfilmen "In the Bedroom" (2001) und "Little Children" (2006) bedrückende Porträts amerikanischer Kleinstädter gelangen, ist damit mit seiner Rückkehr auf den Regiestuhl nach 16 Jahren Pause auf der Höhe der Zeit.
Bis zum Schluss verdichtet der ebenso schnörkellose wie elegante Film dabei konsequent das komplexe Porträt der Dirigentin, bei dem Field Blanchett in teilweise sehr langen Einstellungen immer wieder viel Raum lässt, um weitere Nuancen dieser Figur zu vermitteln. So wird, wenn sie gezwungen wird die Wohnung einer Nachbarin aufzusuchen, die in Verwahrlosung lebt, ebenso die Fallhöhe zwischen ihrer Elitewelt und dem Leben der Unterschicht bewusst wie bei einer Rückkehr ins Haus ihrer Jugend, wie sehr sie sich von ihren Wurzeln entfernt hat.
Als ein vom Alltag der durchschnittlichen Bevölkerung abgeschotteter Elfenbeinturm erscheint die Welt der Hochkultur. Wie viel sich die Dirigentin wirklich zu Schulden kommen ließ, wie sehr sie Grenzen überschritt und ihre Macht missbrauchte, wird mehr angedeutet als ausformuliert. Eindrücklich zeigt Field aber auf, welche Auswirkungen die Vorwürfe und Gerüchte nicht nur auf Társ psychische Verfassung, sondern auch auf ihre Karriere haben.
Das ist eben nicht nur hochintelligentes und inhaltlich spannendes Kino am Puls der Zeit, sondern besticht auch durch seine formale Meisterschaft. Kühl wie die Filme Michael Hanekes ist "TÁR" entwickelt aber auch durch den Schnitt von Stammeditorin Monika Willi und Kameramann Florian Hoffmeister eine Dichte, durch die die Spannung trotz der Fokussierung auf eine Person mühelos über mehr als zweieinhalb Stunden aufrecht erhalten wird.
Ansehen sollte man sich aber auch diesen Film, wenn irgendwie möglich, in Originalfassung mit Untertiteln. Denn auch wenn der Großteil englisch gesprochen ist, so gibt es doch auch immer wieder kurze deutsche Passagen. Schwer vorstellbar ist, dass dieser fließende Wechsel zwischen den Sprachen bei einer Synchronisation beibehalten werden kann, wird aber alles auf Deutsch eingeebnet verliert "TÁR" sicherlich einiges von seiner Atmosphäre.
TÁR USA 2022 Regie: Todd Field mit: Cate Blanchett, Mark Strong, Julian Glover, Sydney Lemmon, Nina Hoss, Noémie Merlant Länge: 158 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Skino Schaan (O.m.U.) und ab 2.3 in den deutschen und österreichischen Kinos, z.B. im Cinema Dornbirn. TaSKino Feldkirch im Kino GUK: 10.3. bis 16.3. (in O.m.U. nur am 13./15./16.3.) LeinwandLounge in der Remise Bludenz: Mi 5.4., 19 Uhr (O.m.U.) Filmforum Bregenz im Metrokino Bregenz: Do 13.4., 20 Uhr (O.m.U.)
Trailer zu "TÁR"
Vielen Dank für diese verständnisgebende Kritik. Der Film lebt ja von Andeutungen und man reimt sich je nach Phantasie viel zusammen. Ich habe mir z.B. überlegt, ob der Film andeuten will, dass Furtwängler nekrophil war. Der Film ist jedenfalls ganz großes Kino, aber Untertitel hätte ich an der einen oder anderen Stelle schon gebraucht.