
Audrey Diwans Neuinterpretation des 1967 erschienenen erotischen Romans von Emmanuelle Arsan ist eine brillant fotografierte, aber kühle Reflexion über das Spannungsverhältnis von weiblichem Begehren und beruflichen Zwängen in einer kapitalistischen Welt.
2021 gewann Audrey Diwan mit ihrem Abtreibungsdrama "L´évènement" ("Das Ereignis") in Venedig den Goldenen Löwen. Hoch waren die Erwartungen an ihre Neuinterpretation von Emmanuelle Arsans Roman, der vor allem durch die Verfilmung von Just Jaeckin von 1974 und dessen Ableger wie "Emanuela 77" ("La Marge") berühmt wurde. Doch weder das Festival von Cannes – möglich freilich auch, dass der Film damals noch nicht fertig war – noch die von Venedig und Toronto nahmen das Erotikdrama in ihr Programm auf, sodass "Emmanuelle" seine Premiere als Eröffnungsfilm des Festivals von San Sebastian feierte.
Mit einem Rating auf Rotten Tomatoes von derzeit 17% bei allerdings nur 12 Rezensionen kam Diwans dritter Spielfilm auch bei der Kritik – zumindest bislang – alles andere als gut an. Dennoch hat diese "Emmanuelle" zweifellos beachtliche Qualitäten.
Diwan und ihre Ko-Drehbuchautorin Rebecca Zlotowski haben die Handlung des 1959 unter dem Pseudonym Emmanuelle Arsan geschriebenen, aber erst 1967 veröffentlichten erotischen Romans von den 1950er Jahren in die Gegenwart und von Thailand nach Hongkong verlegt. Ihre Protagonistin (Noémie Merlant) ist auch keine gelangweilte Diplomatengattin, sondern vielmehr eine unabhängige Geschäftsfrau, die für einen Konzern in der chinesischen Metropole ein Luxushotel prüfen und bewerten soll.
Einzig ein Telefonat weist darauf hin, dass diese Madame Arnaud, deren titelgebender Vorname im Film nie genannt wird, in Frankreich eine Beziehung mit einer Frau hatte. Darüber hinaus erfährt man nichts über ihr Leben. Ihr sexuelles Verlangen wird aber schon in der ersten Szene spürbar.
Mit ihrem hochgeschobenen Kleid und dem Ausziehen ihrer Jacke zieht sie in der Businessclass eines Flugzeugs die Blicke eines Mannes auf sich. Sie fordert ihn mit ihrem Auftreten geradezu auf, ihr in die Toilette zu folgen, wo er von hinten in die am Waschbecken stehende Mittdreißigerin eindringt.
Zwar arbeitet Diwan hier mit dem männlichen Blick, doch Agierende ist die Frau, die den Mann lenkt. Lust ist allerdings in dieser fast Szene kaum zu spüren, vielmehr kalt und mechanisch wirkt der Sex, Ernst oder sogar Traurigkeit kennzeichnen ihren Blick in den Toilettenspiegel.
Mit einem Schnitt wechselt der Film nach diesem Auftakt, nach dem Madame Arnaud im Flugzeug auch vom japanischen Ingenieur Kei (Will Sharpe) beobachtet wird, ins Hongkonger Luxushotel. Bis kurz vor Ende wird dieses der einzige Schauplatz des Films bleiben.
Kameramann Laurent Tangy beschwört in exquisiten Bildern der edlen Zimmer, der Lobby, in der stets Bedienstete bereit stehen, und der Parkanlage mit Pool sowie der kulinarischen Köstlichkeiten die exklusive Atmosphäre. Doch gleichzeitig wird die Dekadenz dieses Luxus-Ambientes aufgedeckt, wenn Delikatessen entsorgt werden, und die Vergänglichkeit wird im Blick auf Blumen, die verwelken und abfallen, ebenso spürbar wie die Kälte in der geradezu klinischen Sauberkeit und Aufgeräumtheit des Hotels.
Ein Gegensatz baut Diwan dabei mit Madame Arnauds kühlem, beruflichen Protokollieren der Qualitäten und Mängel der Hotelanlage einerseits und ihrem starken Begehren auf. Sie hat nicht nur kurzen Sex mit einem Gästepaar, sondern auch mit einem jungen asiatischen Escort-Girl, das – wie auch Escort-Boys – in der Parkanlage den Gästen zur Erfüllung von deren Wünschen zur Verfügung steht. Offiziell erlaubt ist deren Präsenz zwar nicht, wird aber von der Hotelführung toleriert, denn Lustbefriedigung und absolute Zufriedenheit der Gäste sind das oberste Ziel.
In einer langen Szene befriedigt sich die Qualitätstesterin auch selbst, besonderes Interesse weckt aber der Ingenieur Kei, den sie immer wieder herausfordert, der auf ihre Avancen aber nicht eingeht, und dem sie schließlich in die Stadt folgt. An die Stelle der perfekt organisierten Hotelanlage treten damit dampfende Garküchen und schummrige Tanzclubs und Spielhöllen.
Von großer Eleganz ist dieser Film. Eindringlich lässt er hinter der professionellen Zurückhaltung und Kälte der von Noémie Merlant stark gespielten Protagonistin sowohl deren Einsamkeit und Traurigkeit als auch deren scheinbar nicht stillbares Begehren spüren. Fast mehr noch als im Geschlechtsakt an sich vermittelt Diwan dies dabei im Beobachten anderer oder im Reden über Sex, wenn Madame Arnaud Kei detailliert die Szene in der Flugzeugtoilette schildert.
Nicht nur sehr erotisch und sexy ist "Emmanuelle" trotz seiner kühlen und nüchternen Inszenierung in diesen Szenen, sondern fragt mit dem Spannungsfeld von kapitalistischem Optimierungsprozess, bei dem Madame Arnaud letztlich gar kein objektives Prüfergebnis erstellen soll, sondern vielmehr gravierende Fehler der Managerin (Naomi Watts) finden soll, um diese ohne große Abfertigung kündigen zu können, und dem sexuellen Begehren auch nach dem Verhältnis von äußerem Leben mit seinen Verpflichtungen und privaten Sehnsüchten.
Zur wirklich befreiten Lust und Erfüllung kann Madame Arnaud dabei nur kommen, wenn sie ihren Auftrag hinter sich lässt und sich aus ihrer beruflichen Verpflichtung löst. So steht am abrupten Ende auch eine intensive Sexszene, bei der freilich die Protagonistin die Zügel immer in der Hand hat, und ein Lustschrei, die in Opposition zum lustlosen Sex in der Flugzeugtoilette am Beginn stehen.
Emmanuelle Frankreich 2024 Regie: Audrey Diwan mit: Noémie Merlant, Will Sharpe, Naomi Watts, Chacha Huang, Jamie Campbell Bower, Anthony Chau-Sang Wong Länge: 117 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.
Trailer zu "Emmanuelle"
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