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  • AutorenbildWalter Gasperi

Genusssucht bis zum Kollaps: Dekadenz im Film


Marie Antoinette (Sofia Coppola, 2006)

Ausschweifung und Luxus: Vom Niedergang des Römischen Reichs über Sofia Coppolas "Marie Antoinette" bis zu Ruben Östlunds "Triangle of Sadness" liebt das Kino die Schilderung von Dekadenz, gibt diese visuell doch viel her. Das Zürcher Kino Xenix widmet dieser Thematik im Januar eine Filmreihe.


Auf das Lateinische "cadere" "fallen" oder noch genauer auf "decidere" "herunterfallen, zu Boden fallen" geht der Begriff Dekadenz zurück. Wurde das Wort im 16. Jahrhundert noch für die Beschreibung eines wirtschaftlichen Niedergangs verwendet, so wird damit heute laut dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache der "gesellschaftliche Verfall bzw. das verfeinerte, morbide Spätstadium einer Gesellschaft" zum Ausdruck gebracht.


Weil diese Phasen der Dekadenz durch grenzenlosen Luxus, Genusssucht und Verschwendung gekennzeichnet sind, bietet sich deren Schilderung für ein visuelles Medium wie den Film besonders an. Hier können Ausstatter und Kostümbildner aus dem Vollen schöpfen und die Kameraleute in spektakulären und farbenprächtigen Bildern schwelgen.


Dass diesem Luxusleben gleichzeitig meistens eine in Armut lebende einfache Bevölkerung gegenübersteht, wird dabei meistens ausgespart: Der Fokus richtet sich ganz auf den exzessiven Lebensgenuss, der freilich in seiner Übersteigerung auch immer wieder kritisiert wird. – Und gleichzeitig können diese Film im Schwelgerischen auch vielfach selbst zu Manierismus und Dekadenz tendieren.


Schon im Mittelalter prägte das Christentum das Bild von der sittenlosen Antike, die erst durch die neue Religion überwunden wurde. Von "Quo vadis?" (1913 – 1924 - 1951) über "Fellinis Satyricon" (1967) bis zu Tinto Brass´ "Caligula" (1979) bediente das Kino dieses Bild. Mit dem zum Brand Roms Lyra spielenden Nero und seiner Lust an brutalen Schauspielen in Mervyn LeRoys "Quo vadis?"-Remake (1951) wurde das Bild vom dekadenten Rom geprägt, weniger Verbreitung fand "Caligula", in dem sexuelle Exzesse und Grausamkeiten ins Zentrum gestellt wurden.


Nicht nur in diesen Schilderungen der römischen Kaiserzeit ist Dekadenz aber immer auch untrennbar mit hoher zivilisatorischer Entwicklung verbunden. Niedergang und Verfall sind nur möglich, wenn es Luxus und ein Leben gibt, in dem man kaum mehr einer Arbeit nachgehen muss, sondern sich ganz dem Genuss hingeben kann.


Kein Wunder ist es folglich, dass Dekadenz in Filmen übers "finstere Mittelalter" kaum Thema ist, erst das Luxusleben der Renaissance-Fürsten in Florenz, Venedig und Rom bot dafür wieder Stoff.


Bezeichnend für Schilderungen der Dekadenz sind oft markante Klassengegensätze, wie sie sich in der höfischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zeigen. Förmlich in einer Blase lebt der französische Hof in der knallbunten und poppigen Zuckerpuppenwelt von Sofia Coppolas "Marie Antoinette" (2006). Wie Peter Ustinov als Nero in "Quo vadis" abgeschottet in seinem Palast lebt und in den die Sperren durchbrechenden Menschen nur Ungeziefer sieht, vor dem er sich in seine Gemächer zurückzieht, so lebt die französische Königin durch einen hohen Zaun geschützt in ihrem Märchenschloss Versailles außerhalb von Paris. Gleichzeitig kritisiert Coppola in ihrem Film mit anachronistischen Brechungen aber auch die Oberflächlichkeit und Genusssucht der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die ein wiederkehrendes Thema ihrer Filme ist.


Intrigenspiele wie sie Stephen Frears in "Dangerous Liaisons" (1988) oder Yorgos Lanthimos in "The Favourite" (2018), in dem die britische Königin Anne (1665-1714) willfährige Marionette ihrer Geliebten ist, zeigen, legen andere Aspekte der Dekadenz dieser höfischen Welt frei.


Mit dem Sturz dieser Gesellschaftssysteme – sei es des Römischen Reichs oder der absolutistischen Gesellschaft – geht gleichzeitig immer quasi ein Reset einher, von dem aus sich die neue Gesellschaft erst langsam wieder zu Blüte und schließlich völligem Überschwang und Exzess entwickelt.


Dem Niedergang der – dekadenten – aristokratischen Welt steht so im 19. Jahrhundert die Industrialisierung gegenüber. Mit "Senso" (1954), "Ludwig II." (1973), aber auch "La morte di Venezia" (1971) gelangen Luchino Visconti eindrückliche, von Melancholie durchzogene Schilderungen dieser dem Untergang bestimmten adeligen Welt.


Erst nach dem Ersten Weltkrieg hat sich auch aufgrund der Liberalisierung und der technischen Entwicklungen wie beispielsweise der Elektrifizierung in den Metropolen des Westens wieder eine Gesellschaft entwickelt, die in ausschweifendem Lebensgenuss jeden Tag so lebte als sei es der letzte. Baz Luhrmans "The Great Gatsby" (2013) aber auch die TV-Serie "Babylon Berlin" (2017ff.) geben ein beredtes Zeugnis von diesem Tanz auf dem Vulkan. Luchino Visconti dagegen zeichnete in "La caduta degli dei – Die Verdammten" (1969) am Beispiel einer Industriellenfamilie ein ebenso großes wie grelles Bild vom Verfall.


Nach dem Zweiten Weltkrieg und der wirtschaftlichen Erholung gelang Federico Fellini mit "La dolce vita" (1960) eine prototypische Schilderung einer Gesellschaftsschicht, der Sinn und Orientierung abhanden gekommen sind und die sich im süßen Müßiggang treiben lässt. Paolo Sorrentino, dessen Filme allein schon durch ihren barocken Stil Dekadenz beschwören, treibt dieses Gesellschaftsbild im vielfach preisgekrönten "La Grande Bellezza" (2013) weiter.


Während hier der alternde Journalist aber schließlich nach Auswegen aus der sinnentleerten Genusssucht sucht, sind solche Reflexionen den Jugendlichen in Harmony Corines "Spring Breakers" (2012) fern. Sie glauben vielmehr in ihren Frühlingsferien in hemmungslosem saufen, huren und konsumieren ihr Glück zu finden. Müssen die Teenager das nötige Kleingeld dafür sich erst durch einen Überfall auf einen Diner beschaffen, so ermöglicht in Martin Scorseses "Wolf of Wall Street" (2013) einem Börsen-Makler sein unermesslicher Reichtum sein ausschweifendes Luxusleben. Bissige Kritik an dieser Genusssucht übte aber schon Marco Ferreri in seinem Klassiker "Das große Fressen" (1973), in dem sich vier Männer mittleren Alters zu Tode essen.


Vernichtend ist auch der Blick von Mark Mylod in "The Menu" (2022) und Ruben Östlund in "Triangle of Sadness" (2022) auf die verfeinerte und überkandidelte westliche Luxus-Gesellschaft, die jede Bodenhaftung verloren hat. Einziger Ausweg aus dieser Dekadenz, scheint auch hier nur ein völliger Neubeginn, der freilich für Östlund erst möglich ist, nachdem das Kreuzfahrtschiff, das für die Welt der Reichen und Schönen steht, gesunken ist.


Weitere Informationen zur Filmreihe und Spielzeiten finden Sie hier.


Trailer zu "Marie Antoinette"


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