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  • AutorenbildWalter Gasperi

72. Locarno Film Festival: Halbzeit im Leoparden-Rennen

Aktualisiert: 17. Aug. 2019


Neun von 17 Filmen im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden sind gelaufen, ein Favorit hat sich noch nicht herauskristallisiert. Die Spannbreite des heutigen Kinos demonstrierten „Bergmál – Echo“ des Isländers Rúnar Rúnarsson und „Terminal Sud“ des gebürtigen Algeriers Rabah Ameur-Zaimeche.


Keine durchgängige Geschichte erzählt Rúnar Rúnarsson in „Bergmal – Echo“, einzig die Zeit um Weihnachten und Island als Schauplatz sind das Verbindende der 59 weitgehend statischen und meist distanzierten tableauartigen Einstellungen von teils typischen und teils weniger markanten Weihnachtsmomenten.


Vom Kauf eines Weihnachtsbaums bis zum Besuch der Gräber der Angehörigen, vom Weihnachtsspiel der Kinder, das die Eltern mit ihren Handys filmen, bis zur Vorbereitung auf das Festessen, die Weihnachtsmesse und das Singen von „Stille Nacht“ auf Isländisch spannt sich der Bogen, auch ein Silvesterfeuerwerk und die Geburt des Neujahrsbabys dürfen nicht fehlen, aber auch die Ausspeisung von Bedürftigen durchs Rote Kreuz oder einen Protest der Arbeiter gegen niedrige Löhne spart Rúnarsson nicht aus.


Übervoll an kleinen Geschichten, die sich vielfach auch auf viele andere Länder übertragen lassen, ist so „Bergmál – Echo“ und jede Einstellung ist perfekt kadriert und ausgeleuchtet. Doch weil sich außer Weihnachten als Thema keine Querverbindungen zwischen diesen Momentaufnahmen einstellen, weil manches auch allzu bruchstückhaft und unergiebig bleibt, kann diese Szenenfolge, die auch recht beliebig wirkt, trotz trocken lakonischem Blick und sarkastischem Witz nicht durchgängigen Sog entwickeln, fasziniert immer wieder im Detail, ermüdet aber auf die Dauer. Grund dafür dürfte auch sein, dass man bei jeder Einstellung praktisch wieder neu in den Film einsteigen muss und so nie wirklich in ihn eintauchen kann.

Zupackendes, aber auch heftiges Kino bietet dagegen Rabah Ameur-Zaimeche mit „Terminal Sud“. Hautnah will der gebürtige Algerier dem Zuschauer das permanente Klima der Angst in einem Land vermitteln, in dem Polizei- und Militärgewalt sowie Terror durch Verbrecher oder Rebellen sich vermischen. Geographische Verankerung wird einerseits bewusst vermieden, andererseits werden klare Hinweise für Südfrankreich als Schauplatz gesetzt. Bewusstmachen will Ameur-Zaimeche damit wohl, dass das Geschilderte nicht nur in der Ferne, sondern auch in Frankreich passieren kann.


Gleich mit der Auftaktszene, in der Soldaten oder als Soldaten getarnte Verbrecher mit Maschinenpistolen im Anschlag bei einer Straßensperre eine Reisegruppe ausrauben, baut Ameur-Zaimeche dieses Klima der Unsicherheit auf, verstärkt es, wenn in der Stadt auf offener Straße Journalisten verschleppt oder Menschen erschossen werden.


Im Zentrum der Handlung steht ein Arzt, der nicht Partei ergreifen will, sondern glaubt, jedem Menschen helfen zu müssen. Die Machthaber dulden diese Haltung allerdings nicht, nehmen ihn schließlich fest und verhören und foltern ihn. Vor einer harten und schwer zu ertragenden Szene schreckt der Film dabei nicht zurück.


Keine Analyse der Hintergründe und Ursachen der labilen und von Gewalt und Terror bestimmten Verhältnisse will Ameur-Zaimeche bieten, sondern will mit seinem immersiven Stil dem Zuschauer eine Erfahrung bescheren. Offen lässt er, ob die Gegner des Staates Verbrecherbanden, Rebellen oder Terroristen sind. Ziel ist es zu vermitteln, wie in diesem Klima die Menschlichkeit auf der Strecke und selbst der Friedfertige letztlich nur durch Flucht oder den Griff zur Waffe überleben kann. – Ein packendes und intensives humanistisches Kinostück, das nachwirkt.


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