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AutorenbildWalter Gasperi

72. Locarno Film Festival: Auf der Piazza in Cockpit und Prozesssaal

Aktualisiert: 17. Aug. 2019


Statt mit Spektakel punkten Patrick Vollraths Flugzeugentführungsfilm „7500“ und Stéphane Demoustiers Prozessfilm „La fille au bracelet“ mit Reduktion auf das Wesentliche. Kammerspiele sind das zwar, entfalten aber auch – oder vielleicht erst recht – auf der riesigen Leinwand der Piazza Grande ihre Wirkung.


Am Beginn des Langfilmdebüts von Patrick Vollrath, dessen Kurzfilm „Alles wird gut“ 2016 unter anderem für den Oscar nominiert wurde, stehen Aufnahmen von Überwachungskameras am Berliner Flughafen. In tonlosen schwarzweißen Bildern sieht man Menschen beim Check-In, bei den Sicherheitskontrollen, im Duty-Free-Shop, im Warteraum vor dem Gate.


Mit einem Schnitt springt „7500“, dessen Titel den Code für eine Flugzeugentführung bezeichnet, ins Cockpit einer Passagiermaschine. 90 Minuten lang wird die Kamera diesen engen Raum nicht verlassen, einzig ein Bildschirm wird den Blick in den Passagier-Bereich öffnen.


Auf die Vorbereitungen des Flugs durch Pilot und Co-Pilot folgen das Boarding und bald der Start, ehe wenig später drei islamistische Terroristen versuchen ins Cockpit vorzudringen.


Mehr sollte nicht verraten werden, denn mit immer wieder neuen Wendungen, die gegen Ende freilich auch an Glaubwürdigkeit verlieren, treibt Vollrath die Handlung voran, vermittelt eindrücklich den enormen Druck und die Belastung unter der der von Joseph Gordon-Levitt mit großem Körpereinsatz und Engagement gespielte Co-Pilot steht.


Bewundernswert ist, wie sich Vollrath ganz auf das Cockpit konzentriert, fast in Echtzeit erzählt und auf alle Nebengeschichten und Hintergründe verzichtet. In letzterem liegt andererseits aber auch wieder eine Schwäche des Films, denn zu wenig Hintergrund und Facetten bekommen die Charaktere, um sich wirklich mit ihnen identifizieren zu können, und zwar mit überraschenden Wendungen, aber ohne echtes Geheimnis und ohne doppelten Boden verläuft die Handlung. – Ein handwerklich starkes Debüt, das neugierig auf Vollraths weitere Entwicklung macht, ist das aber allemal.


Wie ein Film schon mit der ersten Einstellung Spannung aufbauen kann, demonstriert Stéphane Demoustier in „La fille au bracelet“. In der Totalen filmt der Franzose eine französische Familie, die am Strand einen scheinbar idyllischen Nachmittag verbringt, bis plötzlich zwei Polizisten die 16-jährige Tochter Lise abführen. Sofort ist man mittendrin in diesem Film, möchte man doch wissen, worum es hier geht.


Das Geheimnis wird auch nach einem Schnitt, mit dem zwei Jahre übersprungen werden, nicht sofort gelüftet: Lise verbringt nun die Tage zuhause, lernt per Fernstudium. Wieso sie eine Fussfessel trägt, offenbart erst der erste Auftritt beim folgenden Prozess: Die junge Frau wird beschuldigt vor zwei Jahren ihre beste Freundin ermordet zu haben.


In nüchternen statischen Einstellungen und ohne Musik inszeniert Demoustier diesen Prozess, lässt Fragen der jungen Staatsanwältin und der älteren Verteidigerin und Zeugenaussagen aufeinandertreffen, mit denen er nicht nur präzisen Einblick in das Procedere bei einem Prozess bietet, sondern auch aufzeigt, welchen Interpretationsspielraum Aussagen speziell bei einem Fall, bei dem es nur Indizien, aber keine klaren Beweise gibt, bieten, wie moralische Komponenten bei der Einschätzung der Angeklagten mitspielen und wie schwierig es ist, die Wahrheit zu finden und damit zu einem gerechten Urteil zu kommen.


Geschickt versetzt Demoustier in seinem sehr konzentriert und stringent inszenierten und stark gespielten "La fille au bracelet", der wie „7500“ gerade durch den Verzicht auf alles Überflüssige große Intensität entwickelt, den Zuschauer in die Position der Geschworenen. Wie diese, die man im Film nie zu Gesicht bekommt, bekommt auch der Zuschauer erst langsam Einblick in den Fall und muss so auch am Ende für sich selbst das Urteil über die Angeklagte fällen.


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