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  • AutorenbildWalter Gasperi

Un beau matin – An einem schönen Morgen


Nichts Spektakuläres passiert in Mia Hansen-Løves achtem Spielfilm, aber die Geschichte um eine alleinerziehende Mutter, die sich um ihre achtjährige Tochter ebenso wie um ihren pflegebedürftigen Vater kümmern muss und gleichzeitig eine neue Liebe erlebt, bewegt durch den genauen Blick fürs alltägliche Leben, Gefühlsechtheit und ein herausragendes Ensemble.


Immer wieder waren die Filme der 41-jährigen Französin Mia Hansen-Løve von persönlichen Erfahrungen beeinflusst. Zu ihrem zweiten Spielfilm "Le père de mes enfants" ("Der Vater meiner Kinder", 2009) ließ sie sich so vom Freitod des Produzenten Humbert Balsan inspirieren, der ihren ersten Film "Tout est pardonné" (2007) urspünglich produzieren sollte. Während "Un amour de jeunesse" ("Eine Jugendliebe", 2011) autobiographisch geprägt war, verarbeitete sie in der "Eden" (2014) betitelten Reise durch die Pariser Techno-Szene der 1990er Jahre die Biographie ihres Bruders und in "Bergman Island" (2021) spiegelt sie ihre Beziehung zum 26 Jahre älteren französischen Filmregisseur Olivier Assayas.


In "Un beau matin" verarbeitet sie nun die Krankheit und den nahenden Tod ihres Vaters Ole Hansen-Løve. Wie dieser war auch der Filmvater Philosophieprofessor und diese Vorliebe fürs akademische bürgerliche Milieu stellt auch wieder eine Verbindung zu "L´avenir" ("Alles was kommt", 2016) her, in dem Isabelle Huppert eine Philosophieprofessorin spielte.


In der von Lea Seydoux gespielten Dolmetscherin Sandra kann man so Mia Hansen-Løves Alter Ego sehen. Diese alleinerziehende Mutter ist das Zentrum des Films und hält ihn zusammen. Ihr folgt Hansen-Løve auf allen Wegen und erzählt anhand dieser Figur von unterschiedlichen Formen der Liebe und Fürsorge, aber auch von Trauer über einen Abschied und einen Neubeginn.


Denn einerseits kümmert sich Sandra um ihren pflegebedürftigen Vater (Pascal Greggory), den sie schon in der ersten Szene in seiner Wohung aufsucht. Andererseits muss sie sich aber auch seit dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren allein um ihre inzwischen achtjährige Tochter Linn (Camille Leban Martins) kümmern und drittens entwickelt sich auch eine leidenschaftliche Liebe zu einem Freund des verstorbenen Mannes, die freilich dadurch labil und problematisch ist, dass dieser Clément (Melvil Poupaud) verheiratet und Vater eines Sohnes ist.


Stoff für viel Drama bieten diese Beziehungen im Grunde, doch Hansen-Løve erzählt zurückhaltend und unaufgeregt von dieser fürsorglichen Vater- und Tochterliebe und der neuen Liebesbeziehung. Durch den ebenso feinfühligen und empathischen wie genauen Blick auf die Figuren und ihren Alltag entwickelt "Un beau matin" dabei eine Lebensnähe und Gefühlsechtheit, durch die einem die Charaktere schnell ans Herz wachsen und bewegen.


Keine großen Plot-Points gibt es hier, sondern die Französin folgt ihrer Protagonistin einfach durch den Alltag, der zwischen den drei Polen Vater-Tochter-Partner pendelt und erzählt damit auch von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Leben. Denn dem Auf und Ab in der neuen Beziehung mit Glück, aber auch Leid, und der noch weitgehend sorgenfreien kleinen Linn steht der sich verschlechternde Gesundheitszustand des Vaters gegenüber, der bald aus seiner Wohnung in ein Heim gebracht werden muss.


Wenn die mit Büchern überfüllte Wohnung geräumt wird, stellt sich auch die Frage, was denn von einem Leben bleibt, während die Überstellung ins Krankenhaus und die Suche nach einem geeigneten Pflegeheim Einblick in die teils problematischen Verhältnisse in solchen Einrichtungen bietet.


Und trotz diesem bedrückenden Handlungsstrang bewahrt "Un beau matin", dessen Titel sich auf eine geplante Autobiographie des Vaters bezieht, große Leichtigkeit. Das liebt einerseits an der Dominanz von hellen und lichtdurchfluteten Bildern, die auch durch den Dreh auf analogem 35mm Film Wärme und Weichheit ausstrahlen, andererseits aber auch an der flüssigen Montage Marion Monniers, durch die durch souveräne, nie aufdringliche Ellipsen die Handlung über etwa ein Jahr von einem Sommer bis in den nächsten Sommer gespannt wird.


Getragen wird dieser ebenso leichthändige wie zarte, ganz auf das Alltägliche vertrauende Film aber von einem großartigen Ensemble. Wieder einmal herausragend ist die unglaublich wandlungsfähige Léa Seydoux, die an der Seite von Daniel Craig in den letzten beiden Bond-Filmen ebenso brillierte wie in Ursula Meiers "Winterdieb" oder als Top-Journalistin in Bruno Dumonts "France". Wie sie diese liebevolle Tochter und Mutter, die immer wieder den Tränen nahe ist, spielt, wie sie die Belastung ebenso wie die Freude über das neue Liebesglück vermittelt, ist ganz große Schauspielkunst.


Nicht weniger zu beeindrucken vermag aber auch Pascal Greggory als Vater, dessen Krankheit erst etwa in der Mitte des Films beiläufig als Benson-Syndrom definiert wird. Bewegend macht er erfahrbar, wie diesem Philosophieprofessor das Leben und die Literatur, die sein Leben bestimmte, förmlich abhanden kommen und er zunehmend jeden Bezug zur Welt und zu den anderen Menschen verliert.


Perfekt gecastet sind aber auch die kleine Camille Leban Martins als Sandras Tochter und Nicole Garcia als Ex-Frau des Vaters, die zwar Rauheit versprüht, aber sich dennoch auch 20 Jahre nach der Scheidung noch um ihren Ex-Mannes kümmert. Stark ist aber auch Melvil Poupaud in der Rolle von Sandras Liebhaber. Eindrücklich vermittelt er seine Zerrissenheit zwischen Familie und leidenschaftlicher Liebe und die Unmöglichkeit einer befriedigenden Lösung.


So unaufdringlich wie Hansen-Løve inszeniert, spielt auch dieses Ensemble und unterstützt damit die Alltäglichkeit und Unaufgeregtheit von "Un beau matin". Kunstlos mag das dadurch auf den ersten Blick wirken. Doch gerade wie das Leben hier ohne spektakuläre Höhepunkte dahinfließt, ist gerade im Verzicht auf alle Kunstfertigkeit und in der Lebensnähe bis zum offenen Ende mit einem einfrierenden Bild und einem Blick über Paris ebenso bewegend wie beglückend.



Un beau matin – An einem schönen Morgen Frankreich / Großbritannien / Deutschland 2022 Regie: Mia Hansen-Løve mit: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Camille Leban Martins, Sarah Le Picard, Pierre Meunier, Fejria Deliba, Jacqueline Hansen-Løve Länge: 112 min.


Läuft derzeit in den deutschen und Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan und ab 29.12. in den österreichischen Kinos


Trailer zu "Un beau matin - An einem schönen Morgen"



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