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  • AutorenbildWalter Gasperi

Tatami

Weil eine iranische Judoka im Fall von mehreren Siegen bei der WM schließlich eventuell gegen eine Israeli kämpfen müsste, fordert das Regime sie auf, sich vom Wettkampf zurückzuziehen. Doch die junge Frau weigert sich: Guy Nattiv und Zar Amir Ebrahimi verbinden Sport und Politik zu einem intensiven und hochspannenden Thriller.


Durch das Fenster eines Busses erfasst die Kamera von Todd Martin über eine Brachfläche hinweg Hochhausfassaden, um dann im Innern des Busses zu einer angespannten verschleierten Frau (Zar Amir Ebrahimi) und von dieser zu einer in der gegenüberliegenden Reihe sitzenden jüngeren Frau (Arienne Mandi), die mit Kopfhörern Rapmusik hört, zu schwenken.


Schon diese erste Einstellung des in Schwarzweiß und im 4:3 Format gedrehten Films, bei dem mit Zar Amir Ebrahimi und Guy Nattiv erstmals eine Iranerin und ein Israeli zusammenarbeiteten, nimmt gefangen. Das kontrastreiche Schwarzweiß und die Musik laden die Bilder mit Spannung auf, das Filmformat erzeugt Enge und Konzentriertheit, und das Wechselspiel mit der draußen liegenden Stadt und den Frauen im Bus erzeugt ein Spannungsfeld von Weite und Enge, von Freiheit und Gefängnis.


Die iranische Frauen-Judomannschaft ist unterwegs vom Flughafen von Tiflis zur Wettkampfstätte für die Weltmeisterschaft. Stadtansichten der georgischen Hauptstadt folgen, ehe die Kamera in einer Luftaufnahme das Stadion erfasst. Dieses wird der einzige Schauplatz bleiben. Nur wenige Rückblenden und kurze Parallelmontagen werden Einblick in die Situation im Iran vermitteln.


Treibende Kraft entwickelt "Tatami", dessen Titel sich auf die japanischen Reisstrohmatte bezieht, auf der die Judo-Kämpfe ausgeübt werden, nicht nur durch die Konzentration auf diesen Schauplatz und den Wettkampf, sondern mehr noch durch die energetische Inszenierung.


Der in Los Angeles lebende Israeli Guy Nattiv, dem schon mit "Skin" (2018) ein packender Film über die amerikanische Neonazi-Szene und mit "Golda" (2023) ein fesselndes Porträt der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir gelangen, und die Iranerin Zar Amir Ebrahimi, die seit 2008 in Paris lebt und sich als Schauspielerin vor allem mit ihren Rollen im Thriller "Holy Spider" (2022) und im Ehedrama "Shayda" (2023) einen Namen machte, demonstrieren eindrücklich, dass sie die Erzählstrategien des amerikanischen Spannungskinos perfekt beherrschen. Mit dynamischer Kamera, überraschenden Vogelperspektiven, rasantem Schnitt, Arbeit mit Zeitlupe und Unschärfe und dem variantenreichen Soundtrack des Deutschen Dascha Dauenhauer ziehen sie die Zuschauer:innen mitten ins Geschehen hinein.


Unmittelbar auf Augenhöhe mit der von der chilenisch-iranischstämmigen Amerikanerin Arienne Mandi mit vollem Körpereinsatz gespielten Judoka Leila Hosseini ist man so. In einem kurzen Gespräch vermitteln Nattiv / Ebrahimi ihr freundschaftliches Gespräch zu einer israelischen Konkurrentin, das ihre Trainerin (Zar Amir Ebrahimi) mit Beunruhigung beobachtet. Hautnah ist die Kamera bei den ersten Kämpfen dran, die Leila rasch gewinnt. Auch die beiden Reporterstimmen sorgen dafür, dass man einerseits Einblick in den Wettkampf bekommt, andererseits unmittelbar daran teilnimmt.


Von Teheran aus erhält die Trainerin aber bald den Befehl, Leila zu drängen eine Verletzung vorzutäuschen und aus dem Wettkampf auszusteigen. Unerträglich ist für das Regime nämlich die Vorstellung, dass die Judoka in einem Kampf auf eine Israelin trifft und diesen eventuell sogar verliert.


Vom realen Fall des Judoka Saeid Mollaei, der während der Judo-Weltmeisterschaft 2019 in Tokio vom iranischen Sportministerium gedrängt wurde, sich vom Wettkampf zurückzuziehen, ließ sich das Regie-Duo inspirieren, doch auch andere iranische Sportler:innen bekamen immer wieder den Druck des Regimes zu spüren.  


Während sich Leilas Trainerin zuerst den Befehlen der Funktionäre widersetzen will, gibt sie bald nach, als mit Konsequenzen für ihre Familie gedroht wird. Sie versucht Leila zum Aufgeben zu bewegen, doch die Judoka will sich nicht beugen, obwohl sie weiß, welch hohen Preis sie dafür bezahlen muss.


Denn kurze Parallelmontagen in ihre Heimat zeigen einerseits, wie Familie und Freunde sie vor dem Fernseher begeistert anfeuern, andererseits aber auch wie der Ehemann mit dem kleinen Sohn bald vor der Polizei flüchten müssen. Andererseits vermitteln kurze Rückblenden einen Eindruck vom repressiven Regime, wenn Leilas Mann ihre Auslandsreise mit einer schriftlichen Zustimmung gestatten muss oder wenn sie nur in einer illegalen Disco unverschleiert tanzen kann.


Je größer aber der Druck des Regimes wird, das sie auch mit Handyvideos vom brutalen Verhör ihres Vaters einschüchtern will, desto entschlossener und wütender wird Leilas Widerstandswillen. In ihrer Unbeugsamkeit fordert auch der Film zu Widerstandswillen auf, wenn sie schließlich den Schleier vom Kopf reißt, erteilt sie dem Regime endgültig eine Absage.


Spannender Gegenpol zu Leila ist ihre Trainerin, die sich zunächst wie früher schon als Wettkämpferin dem Druck beugt, dann aber eine Entwicklung durchmacht. Großartig vielschichtig spielt Ebrahimi die Entwicklung dieser Figur von Anpassung zu Widerstand gegen das Unrechtsregime, gleichzeitig machen Nattiv /Ebrahimi aber auch den langen Arm der Machthaber sichtbar, wenn diese über iranische Diplomaten auch in Tiflis direkt einzugreifen versuchen.


So macht dieser kraftvolle und schier atemlose Thriller, der eindrücklich von der unseligen Verknüpfung von Politik und Sport erzählt, nicht nur Leila, sondern auch das Publikum sukzessive wütender. Doch "Tatami" zeigt andererseits auch in der freundschaftlichen Beziehung von Leila und ihrer israelischen Konkurrentin, in der Begeisterung der iranischen Bevölkerung für ihre Judoka und schließlich in der realen Zusammenarbeit von Nattiv und Ebrahimi bei diesem Film, dass Freundschaft zwischen den Menschen möglich ist, die Feindschaft nur von einem diktatorischen Regime, das man bekämpfen muss, geschürt wird. Tatami USA / Großbritannien / Georgien 2023 Regie: Zar Amir Ebrahimi, Guy Nattiv mit: Arienne Mandi, Zar Amir Ebrahimi, Jaime Ray Newman, Ash Goldeh, Nadine Marshall Länge: 105 min.



Derzeit in den Schweizer und deutschen Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen. - ab 30.8. in den österreichischen Kinos.



Trailer zu "Tatami"



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