Kraftvoll und packend, aber teilweise auch sprunghaft und plakativ erzählt der gebürtige Israeli Guy Nattiv die auf Tatsachen beruhende Geschichte der langsamen Lösung Bryon Widners von der amerikanischen Neonazi-Szene. – Ein stark gespieltes und rohes Drama, das realistisch-ungeschönte Einblicke in ein weitgehend unbekanntes Milieu bietet.
Physisch spürbar werden der Hass und die Wut der amerikanischen Neonazis geradezu, wenn sie bei einer Demonstration 2009 in Columbus, Ohio ihre Parolen schreiend über eine Brücke ziehen. Eine gewalttätige Auseinandersetzung mit afroamerikanischen Gegendemonstranten scheint unausweichlich. Auge in Auge stehen sich hier der fanatische Neonazi Bryon Widner (Jamie Bell) und der schwarze Menschenrechtsaktivist Daryle Jenkins (Mike Colter) gegenüber.
Bald eskaliert die Situation auch, Demonstranten werden niedergeschlagen, ein Afroamerikaner wird von Widner mit dem Messer verletzt. Am Ende des Films aber werden sich Jenkins und der geläuterte Widner umarmen, werden die Abkehr des Neonazis von der Szene und seine Rückkehr in eine bürgerliche Existenz vollzogen sein.
Guy Nattiv setzte sich schon in seinem Kurzfilm „Skin“, für den er 2019 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, mit der amerikanischen Neonazi-Szene auseinander, erzählt darin aber eine andere und fiktive Geschichte. Zu seinem vierten Langfilm wurde der gebürtige Israeli dagegen durch die 2011 entstandene Fernsehdokumentation „Erasing Hate“, in der die Geschichte Widners nachgezeichnet wurde, angeregt. Gepackt davon nahm Nattiv Kontakt mit Widner und Jenkins auf und entwickelte in über vierjähriger Arbeit das Drehbuch zu „Skin“.
Hautnah ist der Film vor allem am Beginn an der Neonazi-Szene dran, versetzt den Zuschauer mit dynamischer Handkamera und direkter und zupackender Inszenierung unmittelbar ins Geschehen. Dicht und packend evoziert er das Klima der Gewalt und des Hasses in diesem Vinlander Social Club , in dem Bier getrunken, Parolen gedroschen und geschlagen wird.
Plastisch zeigt Nattiv auch die hierarchischen Strukturen, aber auch dysfunktionale Familien und orientierungslose Jugendliche in einem desolaten Umfeld – der klassische White Trash – als Nährboden, in dem die Bewegung leicht neue Mitglieder ködern kann. Am jungen Gavin, den der Anführer der Truppe rekrutiert, kann man sehen, wie wohl auch Widner, der weitgehend ohne Eltern und in prekären Verhältnissen aufwuchs, in die Szene kam.
Dass Widner inzwischen durch und durch Rassist und Neonazi ist, vermitteln die über den ganzen Körper verteilten Tätowierungen. Diese feiern nicht nur mit Wendungen wie „Blut und Ehre“ den Rassismus, sondern sind auch Orden für begangene Straftaten und enthalten Geheimbotschaften, die nur Insider verstehen. Eingeschrieben ist seinem Körper aber auch – wie er bei einem Polizeiverhör und der Aufforderung auszusteigen drastisch demonstriert -, dass Aussteiger als Verräter gejagt werden.
Als Widner aber die alleinerziehende dreifache Mutter Julie (Danielle Macdonald), die vor kurzem aus der Neonazi-Szene ausgestiegen ist, kennen und lieben lernt, wachsen langsam in ihm Zweifel, ob er bei seiner brutalen rassistischen Ziehfamilie bleiben oder doch aus dem Milieu aussteigen soll. Nicht zuletzt Julies Töchter haben es ihm angetan. Verantwortung will er für sie übernehmen und sie vor der Welt der Neonazis schützen, aber auch Schuldgefühle wegen seiner Taten werden in ihm zunehmend stärker.
So leicht lassen ihn die Neonazis aber nicht ziehen. Sie werden versuchten ihn zurückzuholen, zu weiteren Verbrechen zu zwingen und ihn und Julie auch jagen, als er aus dem Milieu tatsächlich aussteigt – auch wenn sie in einen anderen Bundesstaat ziehen.
Unterbrochen von kurzen Szenen der äußerst schmerzhaften Entfernung der Tätowierungen mittels Laser, für deren hohen Kosten ein anonymer Spender aufkam, erzählt Nattiv ohne viel Pathos realistisch die Geschichte dieser Wandlung. Die Inserts zur Anzahl und den rund 600 Tagen der Laserbehandlung machen dabei auch deutlich, wie lange sich diese Entfernung der äußeren Kennzeichen der Zugehörigkeit hinzog. Gleichzeitig soll diese Szene aber wohl auch anderen Neonazis – sofern diese Gruppe den Film überhaupt sieht – Hoffnung machen, dass ein Ausstieg aus der Szene und eine Rückkehr in ein bürgerliches Leben möglich sind.
Nach dem dynamischen Beginn wird „Skin“ dabei zunehmend ruhiger, bleibt aber packend durch das intensive körperbetonte Spiel nicht nur Jamie Bells, der vor rund 20 Jahren in „Billy Elliot“ als Ballett tanzender Arbeiterjunge bekannt wurde, sondern durch den insgesamt sehr authentisch spielenden Cast und die Verankerung der Handlung in einem realistisch und ungeschönt gezeichneten Milieu.
Klein wiegt da der Einwand, dass sich die Handlung teilweise sprunghaft entwickelt, leise und differenziertere Töne fehlen und hohes Erzähltempo vor Auslotung einzelner Szenen und Figuren geht. Deftiges Kino wird hier geboten, auch Action soll nicht zu kurz kommen. Nicht zuletzt ist es aber gerade die zum Thema und zum Milieu passende Rohheit und Energie, durch die „Skin“ seine Intensität, Wucht und Spannung entwickelt.
Läuft derzeit im St. Galler Kinok - ab Oktober in den deutschen Kinos
Trailer zu "Skin"
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