top of page

Spectateurs! - Filmlovers!

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • 23. Okt.
  • 3 Min. Lesezeit
"Spectateurs": Arnaud Desplechin feiert in seinem Essayfilm die Magie des Kinos
"Spectateurs": Arnaud Desplechin feiert in seinem Essayfilm die Magie des Kinos

Arnaud Desplechin feiert in einer mitreißenden Mischung aus inszenierten und dokumentarischen Szenen und unterstützt von zahlreichen Filmausschnitten die Magie des Kinos: Eine ebenso anregende, wie in seiner Fülle und Dichte auch anstrengende Hommage an die siebte Kunst.


"Was passiert, wenn die Realität auf die Leinwand projiziert wird?" ist die Frage, die Arnaud Desplechin in seinem Essayfilm immer wieder aufwirft. In elf Kapiteln spannt der Franzose den Bogen vom Anfang der Filmgeschichte an der Wende zum 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Mitreißend verbindet er dabei, begleitet von zahlreichen Filmausschnitten (Liste der zitierten Filme), biographische Erinnerungen mit historischen und philosophischen Überlegungen.


Da spürt Desplechin - mit seinem Stammschauspieler Mathieu Amalric als Off-Erzähler - zunächst dem Unterschied zwischen Malerei, Fotografie und Film nach, erinnert an Eadweard Muybridge, die Brüder Lumière und Thomas Alva Edison und seinen Kinetoskopen ebenso wie an die Filmpionierin Alice Guy, stellt dann aber auch mit Ausschnitten aus Actionfilmen wie "Die Hard" (1988) und "Terminator 2: Judgement Day" (1991) dem Kino als Spektakelmaschine mit Preston Sturges´"Sullivan´s Travels" (1941) und Roberto Rossellinis "Europa ´51" (1952) das Kino als eine Kunstform für die Benachteiligten und Unterdrückten gegenüber.


Bald lässt er von Menschen beiderlei Geschlechts und unterschiedlichsten Alters kurze Statements zu ihrem ersten Kinoerlebnis und zu ihren Gefühlen während des Kinobesuchs frontal in die Kamera sprechen, dann folgt wieder eine Diskussion über die Ideen des amerikanischen Philosophen Stanley Cavell.


In nachinszenierten Szenen bietet Desplechin aber auch über sein Alter Ego Paul Dedalus, eine Figur, die schon in seinen früheren Filmen "Ich und meine Liebe" ("Comment je me suis disputé … (ma vie sexuelle) ", 1996), "Ein Weihnachtsmärchen" ("Un conte de Noël ", 2008) und "Meine goldenen Tage" ("Trois souvenirs de ma jeunesse", 2015) vorkam, Einblick in seine eigene filmische Sozialisation und Filmleidenschaft.


So besucht Paul als Sechsjähriger mit seiner Oma eine Vorführung des Jean Marais / Louis de Funés-Films "Fantomas" (1964), muss diese aber vorzeitig verlassen, weil sich seine ältere Schwester ängstigt. Als 14-Jähriger fährt er nach Lille, um Bergmans "Schreie und Flüstern" (1972) anzusehen, muss sich dabei freilich als 16-Jähriger ausgeben, begeistert sich aber für die Schauspielerinnen.


Am Fernseher folgt er gebannt Hitchcocks "Spellbound" (1945), während seine Geschwister lieber mit ihm spielen würden und die Erwachsenen anderweitig beschäftigt sind, und einen Film von Carl Theodor Dreyer entdeckt er, als er nachts einmal nicht schlafen kann und zu den Eltern ins Wohnzimmer geht.


Beim Filmclub im Gymnasium zeigt er Vera Chytilovas "Tausendschönchen" (1966), erklärt beim Kinobesuch eines Films von Francis Ford Coppola seinen beiden Begleiterinnen, dass er jeden Film, den er schätzt. mindestens dreimal anschaue, um ihn beim ersten Mal zu entdecken, beim zweiten Mal zu bewundern und beim dritten Mal etwas daraus zu lernen.


Sowohl im Filmclub als auch beim Kinobesuch interessiert sich das andere Geschlecht für den jungen Mann, doch für den Cinephilen scheint die Liebe zum Kino vorrangig. Bei einem Date fällt ihm so das Leintuch als Trennwand in Frank Capras "It Happened One Night" (1934) ein, aber auch an die Begeisterung über die Neufassung von Michael Ciminos "The Deer Hunter" (1978) im Jahr 2013 erinnert er sich.


Mit rasender Abfolge von kurzen Ausschnitten von Abel Gances "Napoléon" (1927) über René Cléments "La bataille du rail (1946) und Howard Hawks´ "Only Angels Have Wings" (1939) bis zu Kathryn Bigelows "Point Break" (1991) werden die Möglichkeiten des Kinos gefeiert und auch eine Hommage an die 2014 mit 42-Jahren verstorbene US-Schauspielerin Misty Upham, die durch den Independent-Film "Frozen River" (2008) international bekannt wurde, fehlt nicht.


Gleichzeitig nützt der Filmenthusiast Desplechin den Blick auf diese Native American um an die Ignorierung der Indigenen im Kino und John Fords Versuch einer Wiedergutmachung mit "Cheyenne Autumn" (1964) zu erinnern. Viel Raum nimmt aber auch die Erschütterung ein, die Claude Lanzmanns monumentaler Dokumentarfilm "Shoah" (1985) bei ihm auslöste und der ihn sogar nach Israel reisen ließ.


Übervoll an Gedanken und Eindrücken ist "Spectateurs!" und erschlägt das Publikum förmlich mit seiner Fülle und seinem atemlosen Tempo. Besser wäre es vielleicht gewesen, sich auf weniger zu beschränken und den einzelnen Szenen mehr Raum zu geben, damit sie sich im Publikum setzen können. Groß ist so die Gefahr, dass vieles verfliegt und nur wenig wirklich haften bleibt, dennoch verlangt einem diese leidenschaftliche Hymne an das Kino in seiner Vielschichtigkeit und seinem Gedankenreichtum höchste Bewunderung ab. Spectateurs! Frankreich 2024 Regie: Arnaud Desplechin mit: Louis Birman, Françoise Lebrun, Mathieu Amalric, Olga Milshtein, Milo Machado-Graner Länge: 88 min.



Läuft am 24.10. und am 30.10. im Kinok St. Gallen.



Trailer zu "Spectateurs!"



Kommentare


bottom of page