Filmbuch: Alice Guy – Die erste Filmregisseurin der Welt
- Walter Gasperi
- 18. Mai
- 4 Min. Lesezeit

An die 500 Filme - andere Quellen sprechen sogar von 1000 Filmen (!) - inszenierte und produzierte die Französin Alice Guy zwischen 1896 und 1920. Sie gehört damit zu den Pionier:innen der Filmgeschichte, doch lange blieb ihre Leistung vergessen und ihre Filme wurden männlichen Kollegen zugeschrieben. José-Louis Bocquet (Text) und Catel Muller (Zeichnungen) würdigen nun in einer im Splitter Verlag erschienenen Graphic Novel die herausragende Bedeutung Alices Guys.
Immer noch gilt vielfach "Le voyage dans la lune" (1902) von Georges Méliès oder "The Great Train Robbery" (1903) von Edwin S. Porter" als der erste Spielfilm der Filmgeschichte. Doch schon im Jahr 1896 – nur ein Jahr nach der ersten öffentlichen Filmvorführung der Brüder Lumière – drehte Alice Guy mit "La Fée aux Choux" einen märchenhaften fiktionalen Film, in dem eine Fee aus Kohlköpfen Kinder hervorzaubert.
Alice Guy und ihre Filme gerieten aber spätestens nach Ende ihrer Filmkarriere 1920 in Vergessenheit oder wurden männlichen Kollegen zugeschrieben. Erst in den letzten Jahrzehnten erfolgte die Wiederentdeckung dieser bedeutenden Filmpionierin, an der nun auch José-Louis Bocquet (Text) und Catel Muller (Zeichnungen) mit ihrer Graphic Novel arbeiten. Gleichzeitig erinnert diese späte Würdigung aber auch daran, wie Leistungen von Frauen in früheren Jahrhunderten und Jahrzehnten gezielt ignoriert, verdrängt und vergessen wurden.
Sven Jachmann skizziert in der Einleitung nicht nur die filmische Karriere Alices Guys, sondern erinnert auch daran, dass sie in den meisten Filmgeschichten kaum erwähnt wird, und zeigt auch Gründe für diese Missachtung auf. Die daran anschließenden Lektüre- und DVD-Tipps laden zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Schaffen der Französin ein.
Passend zur Stummfilmregisseurin ist die darauf folgende, über 300-seitige Nachzeichnung von Alices Guys Leben und Karriere schwarzweiß gehalten. Einfach sind die Bilder, erzählt wird in erster Linie über den Text von José-Louis Bocquet, gleichwohl schaffen die Illustrationen Catel Mullers Atmosphäre und vermitteln die Stimmung der Zeit.
In kurzen Kapiteln bieten Bocquet / Muller auf rund 60 Seiten Einblick in Guys bewegte Kindheit und Jugend von der Geburt am 1. Juli 1873 bis zum Berufseintritt als Stenotypistin, vermitteln aber auch hier schon ihre Begeisterung für Theater und Schauspiel. Mit der Anstellung als Sekretärin von Léon Gaumont bei dem Comptoir général de la Photographie kam sie zu Fotographie und Film, nahm an der ersten Filmvorführung der Brüder Lumière teil, bekam Einblick in die Konkurrenzkämpfe um Patente und begann bald selbst Filme zu drehen.
Plastisch vermitteln Bocquet / Muller die filmischen Entwicklungen in dieser Zeit ebenso wie Guys Erfindungsreichtum. Mit dem Phonographen, mit dem sie Filmszenen mit einem Grammophon begleitete, leistete sie Pionierarbeit für den Tonfilm, während sie mit dem 30-minütigen "La vie du Christ" (1906), bei dem sie 300 Statisten einsetzte, den ersten Bibelfilm schuf.
Nach der Übersiedlung in die USA, wo ihr Mann Herbert Blaché, den Vertrieb des Phonographen für Gaumont ankurbeln sollte, gründete sie mit The Solax Company nicht nur eine eigene Produktionsgesellschaft, sondern legte in ihren Filmen auch gesellschaftskritisches Engagement an den Tag.
So drehte sie mit "A Fool for His Money" (1912) den ersten Film mit afroamerikanischer Besetzung, während alle anderen mit weißen Darsteller:innen mit geschwärzten Gesichtern (Blackfacing) arbeiteten. Sie thematisierte in Filmen Geburtenkontrolle und Kinderarbeit, war aber auch bei Genrefilmen zu keinen Kompromissen bereit. So ließ sie bei der Verfilmung von Edgar Allan Poes "The Pit and the Pendulum" 25 Ratten den Hauptdarsteller angreifen und setzte in "The Tiger" auch einen echten Tiger ein.
Die Karriere Alice Guys wird dabei prägnant in die filmischen Entwicklungen eingebettet. Der Aufstieg Louis Feuillades, den Guy selbst als Drehbuchautor engagierte, wird ebenso am Rande skizziert, wie die Verlagerung der US-Filmindustrie von der Ostküste nach Hollywood und der Übergang von kurzen Einaktern zu längeren Spielfilmen.
Kurz gehalten wird schließlich mit großen Zeitsprüngen Guys Niedergang mit finanzieller Krise, Rückkehr nach Frankreich bis zu ihrem Tod am 24.3. 1968 in einem Pflegeheim in New Jersey, USA.
An diesen flüssig zu lesenden, ebenso informativen wie spannenden Hauptteil schließt sich ein Anhang an, der nochmals mit Jahreszahlen gegliedert nicht nur die Chronologie des Lebens von Alice Guy, sondern auch der wichtigsten Ereignisse rund um die Entwicklung des Kinos nachzeichnet. Geschickt werden dabei die beiden Ebenen durch Fett- bzw. normalen Druck voneinander abgehoben und bei der Geschichte des Kinos wird der Bogen vom Pionier der Fotografie Nicéphore Niépce über die filmischen Versuche Eadweard Muybridges bis zum Kauf des Geländes von Hollywood gespannt.
Wie dieser Anhang bieten auch die sich daran anschließenden Kurzbiographien zu zahlreichen Personen im Leben von Alice Guy von ihren Eltern und Kindern bis zu Léon Gaumont, den Brüdern Lumière, Georges Méliès, Gustave Eiffel und Charles Chaplin sowie Buster Keaton eine gute Gelegenheit die Erkenntnisse des Hauptteils zu wiederholen und zu vertiefen.
Abgerundet wird dieses beeindruckende und jedem Filminteressierten zu empfehlende Filmbuch durch eine Filmographie zu den erhaltenen Filmen Alice Guys sowie zu Dokumentationen und Fernsehfilmen über diese Filmpionierin und eine ausführliche Bibliographie.
José-Louis Bocquet (Text) / Catel Muller (Zeichnungen), Alice Guy. Die erste Filmregisseurin der Welt, Splitter Verlag, Bielefeld 2023, 400 S., € 45, ISBN 978-3-98721-029-7
Video zu "Alice Guy" (9 Minuten)
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