Soy Nevenka
- Walter Gasperi
- vor 1 Tag
- 3 Min. Lesezeit

2001 zeigte die junge Stadträtin Nevenka Fernández den charismatischen Bürgermeister der nordspanischen Stadt Ponferrada der sexuellen Belästigung an: Icíar Bollaín zeichnet, unterstützt von zwei großartigen Hauptdarsteller:innen, aufwühlend den Fall nach, der vor mehr als 20 Jahren die # MeToo-Debatte vorwegnahm.
Schon 2003 erzählte Icíar Bollaín in "Te doy mis oyos" ("Öffne meine Augen") bewegend von häuslicher Gewalt und Missbrauch. Leichtere Töne schlug die 58-jährige Spanierin im Publikumserfolg "La boda de Rosa" ("Rosas Hochzeit", 2020) an, in dem die Selbstermächtigung einer in einem monotonen Alltag verkümmernden Hausfrau im Zentrum stand, während sie in "Maixabel" ("Maixabel – Eine Geschichte von Liebe, Zorn und Hoffnung", 2021) auf dem ETA-Terror und Wegen der Versöhnung fokussierte.
Wie für diesen Film der reale Mord an einem sozialistischen Lokalpolitiker als Ausgangspunkt diente, so beruht auch "Soy Nevenka" auf dem wahren Fall der jungen Ökonomin Nevenka Fernández (Mireia Oriol). Als erst 24-Jährige wurde sie 1999 vom charismatischen Bürgermeister Ismael Álvarez (Urko Olazabal) in den Stadtrat der nordspanischen Stadt Ponferrada berufen und bald darauf zur Finanzstadträtin ernannt. Gewarnt wurde sie zwar davor, dass der doppelt so alte Politiker ein berüchtigter Frauenheld sei, dennoch begann sie nach dessen Drängen eine Beziehung, beendete diese aber bald wieder.
Álvarez fand sich damit aber nicht ab, begann Fernández mit SMS und Telefonanrufen zu terrorisieren, warf ihr öffentlich Unfähigkeit vor, beschimpfte sie und setzte ihr auch physisch zu, um dann wieder reumütig und versöhnlich aufzutreten, um sie zurückzugewinnen.
Ausgehend von einer panischen Flucht, bei der die unruhige Kamera von Griselda Jordana hautnah am Gesicht der Protagonistin klebt und intensiv die innere Erschütterung vermittelt, blendet Bollain mit Nevenkas Schilderung der Ereignisse gegenüber ihrem Anwalt ein Jahr zurück.
Detailreich zeichnet die Spanierin dicht und dynamisch die Entwicklung von der Freude über die überraschende Berufung in den Stadtrat und das zunächst freundschaftliche Verhältnis zu Álvarez bis zum psychischen Zusammenbruch unter dem pausenlosen Druck und dem Mobbing des allseits beliebten Bürgermeisters nach.
Aufwühlende und auch physisch unangenehme Szenen gelingen Bollain hier, wenn Álvarez Nevenka im Stadtrat niedermacht oder eine Dienstreise nutzt, um mit ihr in einem ausgebuchten Hotel das Zimmer zu teilen und sie zu vergewaltigen. Beklemmend intensiv spielt Urko Olazabal den in der Öffentlichkeit geschätzten Peiniger als Wolf im Schafspelz, während auf der anderen Seite Mireia Oriol erschütternd die schweren psychischen Auswirkungen von Álvarez´ Übergriffen auf Nevenka erfahrbar macht.
Gleichzeitig ist dies aber auch die Geschichte einer Selbstermächtigung fast 20 Jahre vor der # MeToo-Debatte, wenn Nevenka schließlich bei einem Anruf von Álvarez auf sein liebekosendes "Quenki" entschieden antwortet "Soy Nevenka" und sich damit entschlossen von ihm distanziert und ihre Unabhängigkeit betont.
So erschütternd aber auch die Geschichte und einzelne Szenen sind, so leidet "Soy Nevenka" doch auch an der sehr konventionell-fernsehhaften Inszenierung und der konsequenten Durchdeklinierung des Falls. Unübersehbar ist stets Bollains Anliegen nicht nur den Missbrauch nachzuzeichnen, sondern mit Nevenkas Aussage gegenüber der Presse Frauen Mut zu machen, nicht zu schweigen, sondern Fälle sexueller Belästigung publik zu machen.
Auf der Strecke bleiben bei dieser konsequenten Fokussierung auf dem Missbrauchsfall Zwischentöne ebenso wie eine differenzierte Ausleuchtung des Umfelds. Von Anfang an ist hier zu spüren, welche Abgründe hinter der leutseligen Oberfläche von Álvarez lauern, während Nevenka durchgängig als zunächst naives und erst sich langsam zum Widerstand durchringendes Opfer gezeichnet wird.
Kaum Profil gewinnen Nebenfiguren wie Nevenkas Eltern, Freunde oder die anderen Mitglieder des Stadtrats und auch die korrupten und auf den eigenen Vorteil abzielenden politischen Machenschaften von Álvarez werden mehr angedeutet als ausformuliert.
Dennoch beeindruckt "Soy Nevenka", für den Bollain in Ponferrada keine Drehgenehmigung erhielt, sowohl als Denkmal für eine Frau, die als erste in Spanien mit Erfolg einen Prozess gegen einen übergriffigen Politiker führte, als auch als Abrechnung mit einer Gesellschaft, die sich großteils nicht hinter das Opfer, sondern hinter den Täter stellte.
Bewegend vermittelt Bollain dabei auch durch den Einsatz von Archivmaterial die öffentliche Stimmung während des Prozesses und stellt in Nachspanninserts der geringfügigen Strafe für Álvarez den Preis gegenüber, den Nevenka für ihren Mut bezahlte: Kaum Unterstützer fand sie nämlich bei ihrem Prozess, auch keine Solidarität der Frauen ist hier zu spüren, wenn eine Mitarbeiterin, der sie viel anvertraute, vor Gericht für den Bürgermeister aussagte und sie während und nach dem Prozess in Spanien keinen Job mehr erhielt, sondern mit ihrem Mann nach England und anschließend nach Irland emigrieren musste. - Sichtbar wird so im Vergleich mit der Gegenwart auch ein längst fälliger Paradigmenwechsel, der sich seit # MeToo im gesellschaftlichen Umgang mit sexueller Belästigung vollzog.
Soy Nevenka
Spanien / Italien 2024
Regie: Icíar Bollaín
mit: Mireia Oriol, Urko Olazabal, Ricardo Gómez, Carlos Serrano, Lucía Veiga, Luis Moreno
Länge: 117 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan (25.9. + 2.10.).
Trailer zu "Soy Nevenka"
Kommentare