Sentimental Value
- Walter Gasperi

- vor 2 Stunden
- 4 Min. Lesezeit

Ein egozentrischer Regisseur, dem die Karriere immer wichtiger war als die Familie, und seine zwei gegensätzlichen Töchter: Joachim Trier erzählt in seinem in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten sechsten Spielfilm feinfühlig und vielschichtig ein klassisches Familiendrama um Kunst und Leben, um Entfremdung und Sehnsucht nach Versöhnung.
Nach einem Schwenk über Oslo gleitet die Kamera von Kasper Tuxen durch ein wohl im späten 19. Jahrhundert im sogenannten Drachenstil am Stadtrand erbautes geräumiges, zweistöckiges Holzhaus. Eine Off-Erzählerin informiert, dass die zwölfjährige Nora in einem Schulaufsatz aus der Perspektive dieses Hauses auf die Bewohner:innen und ihre Geschichte blickte und, unterstützt von Schwarzweißmaterial, spannt Joachim Trier den Bogen vom Tod der Urgroßmutter, bis zu den heftigen Auseinandersetzungen von Noras Eltern, die mit dem Auszug des Vaters endeten.
Seine ganze Meisterschaft zeigt der 51-jährige Norweger, der zuletzt mit "Der schlimmste Mensch der Welt" begeisterte, schon in dieser Eröffnungsszene, wenn er die Zuschauer:innen mit gleitender Kamera und rundem Schnitt sowie Off-Erzählerin in seinen Film hineinzieht. Zärtlich ist sein Blick und voll Liebe zu den Menschen, aber nie sentimental.
Zu einem Hauptdarsteller des Films wird dieses Haus, in dem die inzwischen erwachsenen Töchter Nora (Renate Reinsve) und Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas) ihren Vater Gustav (Stellan Skarsgård), der ein berühmter Filmregisseur ist, nach Jahren der Abwesenheit anlässlich der Trauerfeier für ihre verstorbene Mutter wiedersehen.
Der Vater will mit Nora, die eine erfolgreiche, aber psychisch labile Theaterschauspielerin ist, einen letzten großen, autobiographisch beeinflussten Film drehen, in dem das Haus der Familie ein zentraler Schauplatz sein soll. Doch Nora, die dem Vater nie verziehen hat, dass er die Familie verlassen hat, lehnt ab. Einen Ersatz findet er in dem Hollywood-Star Rachel Kemp (Elle Fanning), doch dieser kommen sukzessive Zweifel, ob sie wirklich die richtige Besetzung für diese Rolle ist…
Meisterhaft lotet Trier die schwierigen familiären Beziehungen aus und macht in einer zentralen Großaufnahme, in der die Gesichter von Nora, ihrer jüngeren Schwester Agnes und dem Vater ineinander übergehen, deutlich, dass sie untrennbar miteinander verbunden sind. So sehr Nora, deren Name unübersehbar auf Henrik Ibsen verweist, sich von ihrem Vater distanziert, so sehr scheint sie doch mit ihrer Fokussierung auf ihrer Karriere ihm ähnlich zu sein.
Weil sie unfähig zu echter Nähe ist, zerbricht auch ihre Beziehung zum Bühnenarbeiter Johan, während ihre Schwester Agnes mit Mann Even und Sohn Erik eine glückliche Familie bildet. Bewegend schildert Trier nicht nur die innige Beziehung der beiden Schwestern, sondern stellt mit ihnen auch unterschiedliche Lebenskonzepte vor.
Der Vater wird dagegen als Egozentriker gezeichnet, der nicht nur seine Karriere immer über die Familie stellte, sondern der seine Familie auch für seine Filme instrumentalisiert und ausbeutet. Denn er besetzte nicht nur Agnes als Kind in einem seiner frühen Filme, sondern hat nun auch in seinem neuen Film eine Rolle für seinen Enkel entdeckt. Nie hat er sich offensichtlich auch um seinen früheren Kameramann gekümmert, mit dem er nun wieder zusammenarbeiten will, bis er überrascht feststellen muss, dass dieser nach einem Schlaganfall gehbehindert ist.
Von der privaten Ebene weitet Trier dabei den Blick auf die historische, wenn Agnes als Geschichtswissenschaftlerin in der Bibliothek über ihre Großmutter recherchiert, die als Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg gefoltert wurde und in den 1950er Jahren im Haus der Familie Selbstmord beging.
Vor allem aber spielt der Norweger souverän mit dem Verhältnis von Kunst und Leben. Wie Nora erklärt, dass sie ihre Gefühle nur auf der Bühne ausdrücken könne, so versucht der Vater den traumatischen Selbstmord seiner Mutter, aber auch seine schwierige Beziehung zu Nora durch seinen Film zu verarbeiten. Versöhnlich erzählt Trier so von der therapeutischen Kraft der Kunst, wenn sich mehrfach scheinbar reale Szenen als Theater- oder Filmszenen entpuppen, gleichzeitig wird die Realität in der Kunst aber überhöht, wenn im Finale eine Filmszene nur scheinbar im Familienhaus gedreht wird.
Aber auch die Differenz zwischen Theater und Film wird angeschnitten, wenn der Theaterschauspielerin Nora der US-Filmstar Rachel Kemp gegenübergestellt wird. Hat Nora bei ihren Auftritten im Theater immer mit größtem Lampenfieber zu kämpfen, so gibt es dieses für die Filmschauspielerin nicht. Andererseits steht den Ovationen, die Nora bei ihren Auftritten erntet, Rachels internationale mediale Präsenz mit Plakaten in einer U-Bahn oder einer Pressekonferenz gegenüber.
Nicht nur diese beiden Schauspielerinnen sind mit Renate Reinsve und Elle Fanning großartig besetzt, sondern der selbstgefällige Vater ist auch eine Paraderolle für Stellan Skarsgård. Mag er auch immer sanft lächeln und sich selbstsicher geben, so schimmern hinter der Fassade doch auch quälende Schuldgefühle durch. Perfekter Gegenpol zu Reinsves Nora ist aber auch Inga Ibsdotter Lilleaas als Agnes, die im Gegensatz zu ihrer Schwester versöhnlicher auf den Vater blickt.
Überladen könnte dieses Familiendrama angesichts der angeschnittenen Themen sein, doch "Sentimental Value" bewahrt immer Leichtigkeit. Dies ist nicht nur Triers Gespür für Momente auflockernden Humors zu verdanken, sondern auch der Erzählweise, bei der einzelne Szenen immer wieder durch lange Schwarzblenden getrennt werden. So kann mühelos zwischen Orten und Personen gewechselt werden, doch trotz dieser episodischen Struktur wirkt die Erzählung nie zerhackt, sondern entwickelt großen Fluss.
Wunderbar rund inszeniert ist das bis zum Finale, in dem der Realität die Möglichkeit auf Hoffnung und Versöhnung durch die Kunst gegenübergestellt wird. Doch so geschliffen und meisterhaft auch Regie und Schauspiel sind, so sehr bewegt sich Trier doch auch in den bekannten Bahnen eines Ingmar Bergman: Er bietet zwar großes Gefühlskino, aber formal aufregendes und modernes Kino sieht von "Sirât" bis "In die Sonne schauen" anders aus.
Sentimental Value
Norwegen /Deutschland / Dänemark / Frankreich / Schweden / Großbritannien / Türkei 2025
Regie: Joachim Trier
mit: Renate Reinsve, Stellan Skarsgård, Inga Ibsdotter Lilleaas, Elle Fanning, Anders Danielsen Lie
Länge: 133 min.
Läuft derzeit in den österreichischen und deutschen Kinos, z.B. im Kino GUK in Feldkirch und ab 11.12. in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und Skino Schaan.
LeinwandLounge in der Remise Bludenz: Mi 21.1., 19 Uhr
Kinothek extra in der Kinothek Lustenau: Mo 26.1., 18 Uhr + Mi 4.2., 20 Uhr FKC Dornbirn im Cinema Dornbirn: Mi 18.2., 18 Uhr + Do 19.2., 19.30 Uhr
Kinotheater Madlen, Heerbrugg: Mo 23.2., 20.15 Uhr
Trailer zu "Sentimental Value"




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