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In die Sonne schauen

  • Autorenbild: Walter Gasperi
    Walter Gasperi
  • 11. Sept.
  • 4 Min. Lesezeit
"In die Sonne schauen": Assoziatives Filmgedicht, in dem vier zwischen 1910 und 2020 spielende Mädchenschicksale kunstvoll verknüpft werden.
"In die Sonne schauen": Assoziatives Filmgedicht, in dem vier zwischen 1910 und 2020 spielende Mädchenschicksale kunstvoll verknüpft werden.

Mascha Schilinski verwebt in ihrem in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichneten zweiten Spielfilme die Schicksale von vier zwischen den 1910er und 2020er Jahren lebenden Mädchen zu einem assoziativen Strom der Bilder und Töne, der Parallelen und Wiederholungen sichtbar macht: Ein Solitär des modernen Kinos, der durch seine herausragende Bildsprache und Montage einen suggestiven Flow entwickelt.


Heimlich blickt die junge Erika (Lea Drinda) während des Zweiten Weltkriegs auf ihren Onkel Fritz, der mit amputiertem Bein im Bett liegt, und will mit hochgebundenem Bein und Krücken selbst erfahren, wie sich das anfühlt.


Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beobachtet die siebenjährige Alma (Hanna Heckt) von einem Schrank aus die Magd Berta, um ihr dann einen Scherz zu spielen. Später beobachtet sie durch das Schlüsselloch, wie die Magd Trudi ihren versehrten Onkel Fritz mit der Hand befriedigt, während sich rund 100 Jahre später, der Teenager Lenka von einem Freund der Familie unangenehm beobachtet fühlt, als sie beim sommerlichen Spiel mit anderen Kindern ihr T-Shirt auszieht.


Immer wieder geht es in "In die Sonne schauen" um diese heimlichen Blicke, mit denen die vier Mädchen, die im Zentrum des Films stehen, die für sie fremde familiäre Welt erkunden. Nie verlässt der Film dessen enges 4:3-Format dabei nochmals durch Türschlitze, Tür- oder Fensterrahmen eingeengt wird, den Vierseithof in der im nördlichen Sachsen-Anhalt gelegenen Altmark, seine umliegenden Felder und den nahen Fluss. Fließend gleitet die Kamera von Fabian Gamper durch die Räume, scheint den Geschichten nachzuspüren, die sich hier abgespielt haben.


Einer linearen Erzählweise verweigern sich Mascha Schilinski und ihre Co-Drehbuchautorin Louise Peter dabei konsequent. Bruchlos wechseln sie vielmehr zwischen den verschiedenen Zeitebenen und machen bei allen äußeren Veränderungen wiederkehrende Gefühle und Traumata sichtbar. Zeitinserts sind hier nicht nötig, sondern Kleidung, Ausstattung, aber auch die Veränderung des Hofes und der Sprache von Plattdeutsch, das deutsch untertitelt wird, und Hochdeutsch markieren die Zeitsprünge.


An alte Fotografien erinnern so die sepiafarbenen und vielfach nur von Petroleumlampen erhellten Anfang des 20. Jahrhunderts spielenden Szenen, während die LPG der DDR der 1980er ein schmutziger Look und die Gegenwart klare moderne Bilder kennzeichnen. Den natürlichen Ton nimmt Schilinski dabei auch immer wieder zurück, unterlegt den Bildern vielmehr ein Knistern und Brummen, das nicht verortet werden kann.


An Michael Hanekes "Das weiße Band" (2009) mag Schilinskis Film dabei in der detailreichen Schilderung bäuerlicher Bräuche und bäuerlichen Alltags zur Zeit des Ersten Weltkriegs erinnern, ist aber im poetisch-assoziativen Stil doch ein ganz anderer Film.


Der Tod spielt eine zentrale Rolle, wenn zunächst ein Totengedenken gefeiert wird, der verstorbenen Großmutter Steine auf die Augen gelegt werden, um den bösen Blick zu verhindern, und der Mund verschlossen wird, um Fliegen abzuwehren, oder einer jungen Verstorbenen für ein letztes Familienfoto die Augenlider hochgenäht werden.


Aber auch die kleine Alma ist quasi vom Tod infiziert, erfährt sie doch beim Blick auf ein Foto, dass sie den gleichen Namen erhielt wie eine verstorbene ältere Schwester. Angst erfüllt sie nun dasselbe Schicksal zu erleiden, während in der DDR der 1980er Jahre ihre pubertierende Nachkommin Angelika (Lena Urzendowsky) ihre erwachende Sexualität entdeckt und zwischen Lebensgier und Todessehnsucht pendelt.


In der Gegenwart wiederum wollen Lenkas (Laeni Geiselers) Eltern den Hof renovieren, während Lenka sich von ihrer kleinen Schwester Nelly löst und in der Nachbarin Kaya, deren Mutter verstorben ist, eine neue Freundin findet.


Die Montage von Editorin Evelyn Rack verwebt furios die Zeitebenen, lässt die Grenzen verschwimmen, Parallelen sichtbar werden und die Figuren gewissermaßen verschmelzen. So gibt es nicht nur eine Wiederkehr des Namens Fritz, sondern es wiederholen sich auch die Familienfotos der 1910er Jahren in der DDR der 1980er Jahre, wenn sie nun mit einer Polaroidkamera geschossen werden und Angelika wie die verstorbene kleine Alma in Unschärfe gleichsam geisterhaft aus dem Bild verschwindet.


Dieses geisterhafte Flottieren durch die Zeiten erinnert an David Lowerys "A Ghost Story" (2017). Wie es dort um die Veränderung eines Hauses nach Verschwinden der Menschen, die aber immateriell noch präsent sind, geht, so erzählt auch Schilinski von der Veränderung des Vierseithofs im Laufe eines Jahrhunderts. Denn aus dem Gutshof, der mit Hilfe von Mägden und Knechten bewirtschaftet wird, wird in der DDR eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, während das Berliner Paar in den 2020er Jahren das Anwesen zum Wochenend- und Ferienhaus umbauen will.


Auf allen Ebenen geht es aber auch und vor allem um die Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen. Denn während Anfang des 20. Jahrhunderts Mägde auf dem Hof sterilisiert werden, damit Knechte sich ihnen ohne die Gefahr einer Schwangerschaft nähern können, und eine Tochter des Bauern als Magd verschachert wird, verhält sich in der DDR der 1980er Jahre ein Onkel übergriffig gegenüber Angelika, und quer durch die Zeitebenen entziehen sich Frauen dem Zugriff der Männer durch Selbstmord. Wie der Hof spielt dabei auch der Fluss eine wichtige Rolle, in dem nicht nur in den 1980er Jahren für die Schwimmnation DDR trainiert wird, sondern in den die Kamera auch immer wieder abtaucht, bis sich die Konturen der Bilder auflösen.


Statt zu einer schlüssigen Geschichte entwickelt sich "In die Sonne schauen" durch den assoziativen Strom der Szenen so zu einer von einem suggestiven Flow getragenen intensiven Erfahrung, die inneren Verbindungslinien zwischen den Generationen nachspürt und transgenerationale Traumata sichtbar macht. Mögen Frauen dabei aber auch immer wieder als Opfer erscheinen, so beschwört Schiliniski in einem großartigen metaphorischen Bild, in dem die Frauen bei der Feldarbeit einem mächtigen Sturm trotzen und im wahrsten Sinne des Wortes abheben, doch auch ihre Kraft und Resilienz.



In die Sonne schauen

Deutschland 2025

Regie: Mascha Schilinski

mit: Hanna Heckt, Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler, Susanne Wuest, Luise Heyer, Zoë Baier

Länge: 149 min.



Läuft jetzt in den schweizer und deutschen Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und Skino Schaan. - In den österreichischen Kinos ab 7.11.



Trailer zu "In die Sonne schauen"



 

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